Samstag, 19. April 2014

Liebe in Zeiten des Krieges - Wole Soyinka zum 80. Geburtstag

Als Ostern 1967 das ostnigerianische Iboland sich zum unabhängigen Staat Biafra erklärte, war Wole Soyinka gerade zum Leiter der Theaterabteilung an der Universität Ibadan im westnigerianischen Yorubaland ernannt worden. Er konnte den Posten nicht antreten, denn wegen seiner lautstarken Unterstützung Biafras wurde er von der Zentralregierung für zwei Jahre inhaftiert. Damals war er schon ein weltweit anerkannter und preisgekrönter Dichter und Theaterautor. Sein Roman „The Interpreters“ war in London erschienen und mit dem Jock-Campbell-Preis für Commonwhealth-Literatur ausgezeichnet worden. Mit diesem Epos der Ernüchterung, die auf die Euphorie der Unabhängigkeit folgte, hatte er sich in Nigeria viele Feinde gemacht. Im Norden des Landes in Isolierhaft, ohne Bücher, ohne Kontakt zur Außenwelt schrieb er mit „soy-ink“ auf Toilettenpapier – diese Aufzeichnungen erschienen 1972 unter dem Titel „The man died“. In der Tat hatte man ihn für tot gehalten. Dem PEN-Club, für dessen deutsche Sektion Janheinz Jahn damals Generalsekretär war, gelang es mit Hilfe des Journalisten Gerd Meuer, ihn ausfindig zu machen und seine Befreiung im Herbst 1969 zu erlangen. Soyinka verließ sein zum Ort des Schreckens gewordenes Land und ließ sich in den USA nieder. Biafra kapitulierte im Januar 1970.

In Amerika schrieb Soyinka den Roman „Season of Anomy“. Er verlegt die Mythe von Orpheus und Eurydike in die Wirren des Biafrakrieges und rückt so Gegenwärtiges in einen historischen-kulturellen Kontext.
Die Geschichte beginnt in dem idyllischen Dorf Aiyéró, einer Art Utopia, dem Gegenentwurf zur verwestlichten Gesellschaft in „The Interpreters“. Hier bringen die jungen Leute, die in der Stadt arbeiten, nicht neue, zerstörerische Ideale ins Dorf zurück, sondern sie verstehen sich als Außenposten afrikanischer Tradition, die sie in der Stadt pflegen. Touristen und Soziologen besuchen den Ort, der so Berühmtheit erlangt. Das mächtige Kakaokartell schickt seinen Werbefachmann Ofeyi nach Ayéró, das als ideale Kulisse für einen Werbefilm erscheint. Iriyise, Ofeyis Hauptdarstellerin und Geliebte, begleitet ihn. Beide sind vom harmonischen Leben in Ayéró fasziniert. Ofeyi lässt sich von den Ältesten die Grundlagen dieser Harmonie erklären. Eigentlich ist es ganz einfach: das Land gehört denen, die es bearbeiten, das Meer denen, die darin fischen, die Religion der Kolonialherren wird durch den traditionellen Ahnenkult ersetzt; jeder hilft jedem und keiner häuft Profite an. Ofeyi möchte diese Art des Gemeinschaftslebens zum Modell einer neuen Gesellschaft machen. Dabei sollen ihm die jungen Leute aus Ayéró helfen. Das Kakaokartell, Vertreter des Konsumterrors, sieht sich durch diese Bewegung - eine Art Vorläufer von Attac - in seiner Dominanz bedroht und sagt den Film ab. Ofeyi wird auf Studienreise nach Europa geschickt. Dort lernt er einen Landsmann kennen, der, weil er ein paar Semester Zahnmedizin studiert hat, nur der „Zahnarzt“ genannt wird. Dieser vertritt die These, jede wirkliche Veränderung lasse sich nur durch Gewalt erreichen. Ofeyi, der zunächst jede Gewalt ablehnt, lässt sich nach und nach von dieser Idee überzeugen und diskutiert sie nach seiner Rückkehr mit den Ältesten von Ayéró, die ihm bestätigen, dass auch die Gründung ihrer Gemeinschaft nicht ohne Gewalt ablief, aber auch daran erinnern, dass „wer Wind sät, Sturm ernten wird“. Gewalt sei allenfalls zur Verteidigung akzeptiert. Während noch über die Errichtung einer neuen, friedlichen und afrikanischen Traditionen folgenden Gesellschaft diskutiert wird, hat das Kartell schon einen Sturm entfacht. Erst trifft er die Männer aus Ayéró, die als austauschbare Vorposten am verwundbarsten sind. - eine Anspielung auf die Pogrome an den Ibo in Nordnigeria im Jahr 1966. Dann breitet sich der Bürgerkrieg über das ganze Land aus. „Operationen“ nennt der „Zahnarzt“ die Überfälle, deren Schilderung keine Scheußlichkeit auslässt. Kaltblütig wird das Morden organisiert. Der „Zahnarzt“ sagt dazu: „Es ist an und für sich ganz einfach: Man muss die Schlange auf den Kopf treffen, um sie unschädlich zu machen.“ Es gibt keine Unbeteiligten: Alle befinden sich in dieser Hölle des zwanzigsten Jahrhunderts, die mit Giftgas, Sprengstoffen und Erpressung durch Verstümmelung funktioniert. Ofeyi bahnt sich seinen Weg durch scheinbar sinnlose Massaker auf der Suche nach Iriyise, die das Kartell entführt hat, um ihn zu bestrafen. Er wird von Zaccheus begleitet, dem Leiter der Band, zu deren Musik Iriyise früher die Werbespots des Kartells sang und tanzte. Unterwegs sehen sie, wie Menschen in einer Kirche eingesperrt und verbrannt werden. Das erinnert an das Massaker von Oradour durch die SS am 10. Juni 1944 und eine Szene des – erst 1978 gedrehten – Fernsehfilms „Holocaust“. Wie ein Handbuch des Zynikers klingt es, wenn Batoki, der oberste Massenmörder, erklärt: „Ich sage Ihnen, es sind alles Feiglinge. Wenn man ein paar von ihnen umgebracht und einige Dutzend eingesperrt hat, dann verhalten sich die übrigen schon richtig und ordnen sich unter.“
Und wenn nicht, bringt man eben noch ein paar tausend mehr um.
Wie durch ein Wunder gelangen Ofeyi und Zaccheus unversehrt zum Lager Temoko. Der Höllenhund Zerberus erscheint in der Gestalt des stumpfsinnigen Gefangenwärters Suberu, und Charon ist der klumpfüßige Lagerkommandant Karaun. Er erlaubt Ofeyi, in die Hölle des Lagers hinabzusteigen und dort Iriyise zu suchen. Das bietet die Gelegenheit zu einer ausführlichen Besichtigung des Lagers, das letztlich nicht schlimmer als die Hölle draußen ist. Ofeyi findet Iriyise in der Abteilung für Verrückte, wird aber dann selbst festgehalten. Zaccheus und der Zahnarzt befreien beide, aber Iriyise, die das Leben schlechthin verkörperte, liegt im Koma. Wird sie wieder aufwachen? Der letzte Satz ist optimistisch: „In den Wäldern begann das Leben sich zu regen.“
Inzwischen gibt es eine umfangreiche Literatur, die die afrikanischen Bürgerkriege der letzten Jahrzehnte zum Thema hat. „Zeit der Gesetzlosigkeit“ war einer der ersten. Der Roman orientiert sich stark an den europäischen Modellen, die seinerzeit noch sehr präsent waren. Es schien damals auch unvorstellbar, dass dem afrikanischen Kontinent je wieder so etwas schreckliches wie der Biafra-Krieg widerfahren könnte.
Seit er 1986 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, gilt Wole Soyinka als moralische Instanz seines Volkes, ja ganz Afrikas. Seine Wortgewalt setzt er nicht nur poetisch sondern auch politisch überzeugend ein, als begehrter Redner und Interviewpartner, der zwar seit langem wieder in Nigeria heimisch ist, aber häufig in der ganzen Welt herumreist – immer nur mit Handgepäck.

Am 13. Juli feiert Wole Soyinka seinen 80. Geburtstag, überschattet vom Tod seiner ältesten Tochter, die im Dezember starb.

Almut Seiler-Dietrich

Werke:
„The Interpreters“ London 1965, „Die Ausleger“, deutsch von Inge Uffelmann Nachwort von Eckhard Breitinger, Walter Verlag 1983, dtv-Taschenbuch 1986, Neuauflage: Ammann Verlag, Zürich 2002).

„The man died“, „Der Mann ist tot“, deutsch von Ulrich Enzensberger und Melanie Walz, Ammann Verlag 1987 und als Fischer-Taschenbuch 1991.

„Season of Anomy“, London 1973 .
Die deutsche Übersetzung von Wolfgang Strauß wurde 1977 im Ostberliner Verlag „Volk und Welt“ unter dem Titel „Zeit der Gesetzlosigkeit“ und mit einer „Nachbemerkung“ von Burkhard Forstreuter herausgegeben. Der Walter-Verlag druckte die Ausgabe 1979 nach, allerdings ohne das Nachwort und unter dem Titel „Die Plage der tollwütigen Hunde“.
1986, anlässlich des Nobelpreises, gab es eine Ullstein-Taschenbuchausgabe mit einer von Inge Uffelmann überarbeiteten Übersetzung und dem ursprünglichen Titel „Zeit der Gesetzlosigkeit“.

Seine Erinnerungen sind in vier Bänden erschienen:
Aké, the years of childhood 1981; Aké, Jahre der Kindheit, Ammann Verlag, Zürich 1986, Neuauflage 2003,
Isarà, a voyage around essay. Isarà. Eine Reise rund um den Vater. Deutsch von Inge Uffelmann. Ammann Verlag, Zürich 1994,
Ibadan, the penkelemes years. Ibadan. Streunerjahre 1946-1965 - Erinnerungen. Deutsch von Irmgard Hölscher. Ammann Verlag, Zürich 1998,
You must set forth at dawn, 2006; Brich auf in früher Dämmerung. Erinnerungen 1960-1999. Deutsch von Inge Uffelmann. Ammann Verlag, Zürich 2008,

Politische Essays:
The burden of memory. Die Last des Erinnerns. Was Europa Afrika schuldet und was Afrika sich selbst schuldet, deutsch von Patmos Verlag, Düsseldorf 2001,
A climate of fear, „Klima der Angst“ deutsch von Gerd Meuer, Ammann Verlag, 2005

„The first exile“ - „Das erste Exil“ in einer wunderschönen zweisprachigen, mit Offsetlithographien von Jürgen Brodwolf geschmückten Ausgabe, deutsche Übersetzung: Gerd Meuer, Verlag Thomas Reche.2009