Montag, 20. November 2017

Maryse Condé: SEGU. Die Mauern aus Lehm.

Maryse Condé: SEGU. Die Mauern aus Lehm. Roman. Wie Spreu im Wind. Roman. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. 

Als ich die zweibändige Familiensaga von Maryse Condé vor dreißig Jahren zum ersten Mal las, (1984/85 im Pariser  Verlag Robert Laffont erschienen), rührten mich vor allem die Schicksale, die den Nachkommen des Fürsten Dusika Traoré aus Segu im heutigen Mali zugemutet wurden. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts führt die Familie ein durch alte Traditionen geregeltes Leben, an dem auch die Ahnen teilnehmen, die verehrt und um Rat befragt werden. Dann bricht die Gewalt von allen Seiten herein. Der von Norden vorrückende Islam bekämpft die animistischen Rituale, zerstört Statuen und Amulette und erzwingt das Bekenntnis zum Einen Gott. 
Zur selben Zeit lauern im Busch Sklavenjäger und verschleppen junge Menschen an die Küsten, wo europäische Händler sie aufkaufen und nach Amerika verschiffen. 
Bald tritt auch das Christentum auf: Vom Senegal her verbreiten französische Missionare – unterstützt von der Armee – den katholischen Glauben; im Süden herrscht britischer Protestantismus.  
Söhne und Enkel der Traorés geraten teils freiwillig, teils unter Zwang in die neuen Strömungen und entfernen sich immer weiter von den Mauern ihrer Heimatstadt. Sie reisen durch ganz Westafrika und gelangen sogar bis nach England und nach Jamaika. 
Der Leser verfolgt ihr Schicksal mit ahnungsvoller Spannung, denn er kennt – anders als die Romanfiguren - die historischen Hintergründe der Gewalt, die sie in den Tod treibt. 
Eigentlich wollte die in Guadeloupe geborene Autorin, die 1960  durch Heirat nach Guinea kam, eine Doktorarbeit über westafrikanischen Geschichte schreiben. Aber, so sagt sie, der Stoff habe sie überwältigt und in der Romanform einen plastischeren Niederschlag gefunden. 
Die Erzählung beginnt 1795 mit dem Erscheinen des ersten Weißen vor den Mauern Segus, der später als Mungo Park identifiziert wird, hält sich aber konsequent an die afrikanische Perspektive. Insofern ist der Roman ein Beitrag zur „global history“, die die eurozentrische Geschichtsschreibung ablöst. 
Maryse Condé konnte damals nicht ahnen, dass ihr Roman durch die Ereignisse in Mali - insbesondere durch den Überfall der Ansar Dine auf Timbuktu im Juni 2012 - neue Aktualität gewinnen würde: Der Djihad, den  El-Hadj Omar Saidu Tall in der Mitte des 19. Jahrhunderts gegen die „Ungläubigen“ führte, ist wieder näher gerückt. Mit Beklemmung lesen wir heute, wie ein Volk, das sein Leben im Einklang mit der Natur genießt, durch die aufgezwungenen monotheistischen Religionen gleichsam erstarrt: Musik und Tanz, Fröhlichkeit und Genuss jeder Art sind nun verboten. Im Hofe der Traorés tobt der Kampf zwischen den Weltanschauungen. Der Patriarch fragt den nach jahrelanger islamischer Indoktrination heimgekehrten Neffen: „’Wenn die Schöpfung der Wesen auf Gottes Liebe beruht, kann Gott dann den Tod oder die Erniedrigung dieser Wesen wollen? Kann man im Namen Gottes töten oder unterdrücken?’ Omar erschauerte. Er wusste, dass Gott seinen Erwählten befohlen hatte, die Menschen zu bekämpfen, bis sie bekannten, dass es keinen Gott gibt außer Ihm.“ 
Maryse Condés zweibändiges Werk ist durch die Ereignisse der letzten Jahre noch politischer und damit wichtiger geworden, als es zum Zeitpunkt des Erscheinens war.


Almut Seiler-Dietrich

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