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Montag, 8. Mai 2023

Buchvorstellung: Afrika und die Entstehung der modernen Welt

 Howard W. FrenchAfrika und die Entstehung der modernen Welt

Verlagstext:

In dieser fesselnden Darstellung erkundet Howard W. French die zentrale, aber absichtlich vernachlässigte Rolle Afrikas und der Afrikaner bei der Entstehung von Wirtschaftssystemen und politischem Denken unserer modernen Welt. Souverän und aufrüttelnd zeigt der Autor, wie die tragische Beziehung zwischen Afrika und Europa, die im 15. Jahrhundert begann, unsere Moderne hervorbrachte.

Die Geschichte Afrikas ist lange in die entlegendsten Winkel unserer globalen Geschichte verbannt worden. Doch was ist, wenn wir statt dessen Afrika und die Afrikaner in den Mittelpunkt unseres Denkens über die Ursprünge der Moderne stellen? In einer mitreißenden Darstellung, die mehr als sechs Jahrhunderte umspannt, deutet Howard W. French die Erzählung vom mittelalterlichen und ins Licht der Geschichte tretenden Afrika grundlegend neu. Dabei zeigt er, wie der ökonomische Aufstieg Europas und die Verankerung der Demokratie im Westen ebenso wie die Durchsetzung der so genannten Ideale der Aufklärung aus Europas entmenschlichendem Umgang mit dem »schwarzen« Kontinent erwuchsen. In packenden Schilderungen spürt der Autor den Lebensläufen wichtiger afrikanischer Persönlichkeiten nach: von unvorstellbar reichen mittelalterlichen Kaisern, die mit dem Nahen Osten und darüber hinaus Handel trieben, über die Stammesfürsten des Kongo, die den europäischen Mächten im 17. Jahrhundert heldenhaft die Stirn boten, bis hin zu den ehemaligen Sklaven, die die Haitianer aus der Leibeigenschaft befreiten und dem Lauf der Geschichte eine andere Richtung gaben. Eine kraftvolle Neudeutung der Weltgeschichte, deren neues Verständnis unserer gemeinsamen Geschichte uns auffordert, sich dieser Vergangenheit zu stellen, um eine andere Zukunft gestalten zu können.

»Howard Frenchs Buch ist die unglaublich wichtige Neuerzählung einer Geschichte, von der Afrika und die Afrikaner lange bewusst ausgeschlossen wurden: Das Buch macht ihre Rolle als Hauptakteure bei der Entstehung der Moderne sichtbar – eine unentbehrliche Lektüre für alle, die sich für Weltgeschichte interessieren.« Amitav Ghosh, Autor von »Die Inseln« und der Ibis-Trilogie

Rezensionen bei Perlentaucher

LeseprobeDaraus: "[...] Nicht Europas Sehnsucht nach engeren Verbindungen mit Asien, wie so viele von uns in der Schule gelernt haben, stieß anfänglich das Zeitalter der Entdeckungen an, sondern vielmehr der jahrhundertealte Wunsch des Kontinents, Handelsbeziehungen zu sagenhaft reichen Schwarzen Gesellschaften zu knüpfen, die sich irgendwo im Herzen des »dunkelsten« Westafrika verbargen. Die berühmtesten Seefahrer der Iberischen Halbinsel sammelten ihre Erfahrungen nicht, während sie nach einem Seeweg nach Asien suchten, sondern vielmehr beim Erforschen der Küste Westafrikas. [...] Lange bevor er seine Expeditionen im Dienste Spaniens ausrüstete, hatte Kolumbus, ein Italiener aus Genua, mit dem Segelschiff Europas ersten großen befestigten Außenposten in Übersee – Elmina im heutigen Ghana – mit Lebensmitteln versorgt. Europas Expeditionen nach Westafrika in der Mitte des 15. Jahrhunderts waren damit verbunden, nach den Quellen des ungeheuren Goldreichtums dieser Region zu suchen. Und es war der gewaltige Handel mit diesem Edelmetall, das die Portugiesen 1471 entdeckt und sich durch den Bau des Forts in Elmina 1482 gesichert hatten, der da Gamas spätere Entdeckungsmission nach Asien mitfinanzierte. Der Goldregen ermöglichte es Lissabon, bis dahin ein kleines und mittelloses europäisches Königreich, seinen Nachbarn zuvorzukommen und den Lauf der Weltgeschichte radikal zu ändern. 

Bartolomeu Dias, ein weiterer regelmäßiger Besucher in Elmina, umrundete 1488 Afrikas Kap der Guten Hoffnung und bewies damit die Existenz eines Seewegs in den Indischen Ozean. Und doch gab es fast ein Jahrzehnt danach keinen einzigen Versuch, Asien auf diesem Weg zu erreichen – bis da Gama schließlich nach Kalikut segelte. Die Geschichtsforschung über diese Ära ikonischer Entdeckungen hüllt sich nicht nur über jenes Jahrzehnt, sondern auch über die fast drei Dekaden von der Ankunft der Portugiesen in Elmina bis zu ihrer Landung in Indien in tiefes Schweigen. Dabei wurden in diesem Moment, in dem Europa und das heute sogenannte subsaharische Afrika in einen dauerhaften intensiven Kontakt traten, die Fundamente des modernen Zeitalters gelegt. [...]"

Atlantischer Dreieckshandel (das Modell und die Kritik daran)

Freitag, 5. Mai 2023

Tsitsi Dangarembga: Schwarz und Frau

Interview


Das Thema Ihres neuen Buches „Schwarz und Frau. Reflexionen über die postkoloniale Gesellschaft“ sind die Ungleichheiten, die weltweit zwischen Männern und Frauen bestehen. Manche sagen, der Feminismus sei gescheitert.

Es ist richtig, dass schwarze Feministinnen eine kleine, oft bekämpfte Gruppe sind. Für Augenblicke der Bestätigung in ihrem Kampf um Gleichberechtigung müssen die Frauen hart kämpfen. Auch wenn die Mehrheit der Frauen weltweit durch patriarchale Strukturen marginalisiert wird, glaube ich nicht, dass der Feminismus gescheitert ist. Ich denke, was der Feminismus getan hat, ist, dass er eine Möglichkeit geschaffen hat, sich eine andere Welt vorzustellen. Die Vorstellungskraft ist die Quelle des Handelns, und weil wir uns eine andere Welt vorstellen können, können wir für sie handeln. Die Ideen des Feminismus reisen um die Welt, also denke ich, wir befinden uns in einem Prozess der Verbindung vieler Ideen, einschließlich feministischer. Viele junge farbige Frauen aus Afrika, auf dem Kontinent und außerhalb des Kontinents, vertreten selbstbewusst ihre Vorstellungen. Die Welt hat sich verändert, das Internet macht es einfacher, Ideen zu verbreiten, so dass feministisches Gedankengut viel leichter zirkulieren kann.

Sie schreiben in Ihrem Buch über ein erschütterndes Ereignis in Ihrem Leben: Kinder aus Simbabwe wurden nach England gebracht, wo sie in Pflegefamilien aufwuchsen. Das scheint System gehabt zu haben. Auch Sie und Ihr Bruder waren davon betroffen. Wie fühlen Sie sich dabei?

Als ich für das Buch recherchierte, dachte ich zunächst nicht daran, dass es System haben könnte. Es ging um Menschen, die aus Sicht des britischen Imperiums intelligent genug erschienen, zu studieren. Sie wurden nach England gebracht, um später für das Imperium nützlich sein zu können. So verlangte man von meinen Eltern, ihr Zuhause in Südrhodesien zu verlassen. Sie mussten nach London gehen, wo sie ein Stipendium für eine Ausbildung erhalten hatten. Meine Eltern gaben mich in eine Pflegefamilie, in der ich aufwuchs. Ich blieb in der Obhut dieser Menschen. Es war, als würde eine Guillotine auf mich fallen. Ich galt als „schwieriges Kind“. Als ich bei meiner Pflegefamilie lebte, erzählte mir meine Pflegemutter  immer von den anderen Kindern aus Afrika, die sie bereits aufgenommen hatte. Ich wusste also, dass so etwas passierte. Was ich aber nicht wusste, war, dass es ein System war, das vom Kolonialamt eingerichtet worden war, um bestimmte Menschen in den Kolonien zu besseren Interessensvertretern des Imperiums auszubilden. Das habe ich erst bei meinen Recherchen für das Buch herausgefunden. [...]

Der Kolonialismus hat meine Familie auseinandergerissen. Mein Bruder und ich haben aufgrund unserer Erfahrungen bis heute Trennungsängste. Das Zugehörigkeitsgefühl ist gestört, es ist sehr schwer, sich zu Hause zu fühlen, egal wo man ist. Es gibt immer etwas, das einen als untypisch kennzeichnet. Und das ist nicht die einfachste Situation, mit der man leben kann. Ich glaube, dass die meisten Menschen den Wunsch haben, zu einer Gruppe zu gehören, und deshalb ist es eine existenzielle Belastung, wenn man ein Zeichen trägt, das einen als nicht zugehörig kennzeichnet. Ich lebte in einer Gesellschaft, die mich als Mängelwesen konstruierte, als jemanden, der erst ein ganzer Mensch werden musste. Aber es war klar, dass ich diesen Status nie erreichen würde, weil ich einen schwarzen Körper habe. [...]

Die Kolonialzeit hat die Strukturen der Wirtschaft geschaffen, es ist wie ein geistiges Gebäude, das immer in dieser Wirtschaftslandschaft sein wird. Das globale System hat sich ja nicht wirklich geändert, denn wenn man sich China anschaut, dann produzieren die Chinesen im Grunde für diese Niedrigpreiswirtschaft des globalen Nordwestens. Ob sich das ändern wird oder nicht, bevor wir den Planeten komplett zerstören, ist eine offene Frage. Es gab früher Varianten kolonialer Gewalt, man verschleppte die Körper, um sie als Arbeitskräfte auszubeuten. Dann wurden die Rohstoffe ausgebeutet. Was wir jetzt erleben, ist der Braindrain: Das geistige Kapital wird den Ländern in Afrika entzogen. Zum Ressourcenabfluss aus Afrika kommt jetzt China hinzu. Der Überbau, der in der Kolonialzeit in die sozioökonomischen Systeme exportiert wurde, besteht heute weiter. Er ist einer der Gründe für die massive soziale Ungleichheit in den Ländern. Es gibt eine Art Mentalkolonisierung, von der schon Bob Marley sprach, eine Art mentaler Sklaverei. [...]"

("Es gibt eine Art mentaler Sklaverei", FR 27.4.2023)

Tsitsi DangarembgaSchwarz und Frau. Gedanken zur postkolonialen Gesellschaft.

Rezension des Buches bei dem Kulturmagazin Perlentaucher:

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.03.2023

Rezensent Fridtjof Küchemann blieb die Luft weg, als er die drei Essays von Tsitsi Dangarembga las. Das liegt zum einen, schreibt der Rezensent, an der vortrefflichen Analyse der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Simbabwe unter Präsident Robert Mugabe, andererseits an den erschütternden Beschreibungen von Dangarembgas Kindheit in Großbritannien, der einstigen Kolonialmacht. Die Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels, die im vergangenen Herbst in Abwesenheit in ihrem Heimatland zu einer Gefängnisstrafe wegen Aufrührerei verurteilt wurde, weite in den Texten den Blick für die nach wie vor herrschende Politik von Ausgrenzung und Unterdrückung von People of Colour, findet der beeindruckte Küchemann: Dies mache  die Lektüre über den Status Quo von dekolonialistischem Engagement besonders interessant. Wie sich im Politischen das Persönliche spiegele sei selten so deutlich geworden, wie in diesem Buch.

Man kann einen Widerspruch darin sehen, dass beklagt wird, dass Kinder nach Europa gebracht wurden, während heute Flüchtlinge nach Europa wollen und sich darüber beklagen, wenn sie abgewiesen werden.
Andererseits ist beiden Situationen eins gemeinsam: es wird durch die Europäer, die Kolonisatoren, entschieden, und der Wille der Afrikaner wird missachtet.
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Montag, 16. Januar 2023

Klima-Reparationen

 Olúfẹ́mi O. Táíwò:

"In der Klimakrise gipfelt jahrhundertelange 'Rassen'-Ungerechtigkeit - [...] Wie den Aktivistinnen und Aktivisten, die das koloniale politische System in den 1960er und 1970er Jahren infrage stellten, durchaus klar war, erfordert Gerechtigkeit, dass wir unsere politischen und wirtschaftlichen Systeme in weltweitem Maßstab umstrukturieren. [...] Wir sollten uns unseren Handel und unser politisches System wie ein Wasserleitungsnetz vorstellen, "das dem ganzen Globus umspannt. Aber statt Wasser zu transportieren, produziert und verteilt dieses Leitungsnetz soziale Vorteile und Nachteile: Wohlstand und Armut, Endprodukte und Umweltverschmutzung, medizinisches Wissen und Unwissen. Die daraus erwachsene Verteilung von Vor- und Nachteilen spiegelt [...] jahrhundertelange menschliche Bestrebungen und Entscheidungen wider. Gezielte Versuche, eine ungerechte Gesellschaftsstruktur zu schaffen, fehlgeschlagene Versuche, eine gerechte Gesellschaftsstruktur hervorzubringen [...]. Diese historischen Leitungen ermöglichen es uns vorherzusagen, wohin zukünftige Ströme von Vor – und Nachteilen wie von selbst fließen werden [...], wenn die Leitungswege so bleiben, wie sie sind. Die Konstruktion der heutigen Welt erfolgte über das globale 'Rassen'-Imperium: über die historisch beispiellose koloniale Eroberung und 'Rassen'-Versklavung, die im 15. Jahrhundert anfing. [...] Dieses System schufen die Kolonialmächte "durch Kolonien auf Landgebieten, die sie sich durch Herrschaft über und Eliminierung von indigenen Völkern sicherten und mit der Arbeitskraft versklavter und verkaufter Afrikanerinnen und Afrikaner produktiv machten. [...]

Im 18. und 19. Jahrhundert verknüpft das britische Weltreich sein Netz von Kolonien und Sklavenarbeit mit neuen kohle– und dampfgetriebenen Technologien, [...] diese Industrielle Revolution [...] verstehen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als Beginn unserer Ära des anthropogenen Klimawandel.

Diese Geschichte des 'Rassen'-Weltreichs [...] hat auch die Netzwerke und Kanäle geschaffen, die heute Vorteile und Nachteile an verschiedene Völker und Orte auf der Welt leiten. [...] Innerhalb dieser unterschiedenen geographischen Bereiche und über sie hinweg haben schwarze und indigene Menschen tendenziell die geringsten Vorteile und die meisten Nachteile im Vergleich zu ihren Nachbarn. Die Ungerechtigkeiten haben sich in der Struktur abgelagert [...]. Diese Struktur werden wir ändern müssen, wenn wir die Übel der Vergangenheit wirklich angehen wollen." (S.450/451)

"Diese Einsicht liegt dem 'konstruktiven' Ansatz der Reparationen für Sklaverei und Kolonialismus zu Grunde: Wir müssen Leitungen schaffen, die den bisher Entmachteten Vorteile zufließen lassen und diejenigen, die durch die Ungerechtigkeit von gestern bereichert und ermächtigt wurden, dazu bringen, ihren gerechten Anteil an den globalen Belastungen zu übernehmen, die aus den Reaktionen auf die Klimakrise und dem Schutz unseres Lebens auf diesem Planeten erwachsen. " (S.451/452)

"Bedingungslose Geldtransfers betreffen nicht nur Individuen und Haushalte. Historische Kapitalflüsse umzulenken, kann – und muss – auch auf der Ebene von Staaten und multinationalen Institutionen passieren. Genau das haben reiche Länder [...] zugesagt, allerdings waren sowohl die Zusagen als auch ihre Umsetzung zu wenig. [...] Privatinvestoren und Konzerne haben angeboten, die Lücke zu überbrücken [...] In dem Maße, wie unsere Bemühungen Umweltgestaltung Finanzmittel erfordern, ist es besser, unmittelbaren politischen Druck auf private Institutionen auszuüben, als sie ans Steuer zu lassen. Solche 'Desinvestitions-Investitions'-Strategien würden Aktivismus nutzen, um Finanzmittel aus fossilen Brennstoffen und anderen umweltverschmutzenden Industrien abzuziehen und in Projekte zu lenken, die das Gemeinwohl fördern: [...] Dies könnten wir mit Blick auf eine weltweite Reichweite [...] damit verbinden, Druck auf den in Steueroasen auf dem gesamten Globus gehorteten Reichtum im Wert von Billiarden US-Dollar auszuüben." (S.452/53)

"In unserem gegenwärtigen System haben private Unternehmen einseitige und autoritäre Kontrolle über weite Bereiche des öffentlichen Lebens [...] Eine wichtige Alternative bietet die Idee der 'Gemeinschaftskontrolle' [...] Wir sollten anstreben, freiheitsfördernde praktische Angebote zu schaffen und gerecht zu verteilen [...] und greifbare Strukturen [...] aufbauen, die uns helfen, eine gerechte, klimaresiliente Welt zu schaffen. Wir müssen Abwassersysteme für den Hochwasserschutz bauen und gerecht verteilen; neue energieeffiziente Wohnungen nachrüsten; und eine sichere, resiliente Infrastruktur für Energietransport und –speicherung entwickeln. [...] Geld allein wird die Probleme nicht beheben Wir müssen Umweltprobleme spezifisch und unmittelbar angehen und dabei zugleich die Machthierarchien infrage stellen, die sie verursacht haben. [...] Welche Entwürfe wir auch entwickeln, wir müssen die Welt buchstäblich neu gestalten – diesmal für die vielen, statt für wenige." (Greta Thunberg: Das Klima-Buch, S.453/454)

Mittwoch, 26. Juli 2017

Ist die europäische Weltsicht seit 500 Jahren durch den Kolonialismus verzerrt?

„Willkommen in Zhengistan, ÄthiopierInnen!“

So begrüßt  der Politikwissenschaftler Aram Ziai das Publikum bei seiner Antrittsvorlesung.

Dann geht es dort weiter:

 "Lassen Sie uns einige Jahrhunderte zurückgehen, ins Zeitalter, in dem Kontinente „entdeckt“ wurden, ins 15. Jahrhundert. Überliefert sind folgende Worte des großen Admirals, der über seine Entdeckungsfahrten berichtet: „Wir haben mehr als 50.000 Seemeilen des gewaltigen Ozeans befahren … und haben unseren Blick auf weit entfernte barbarische Gegenden geworfen.“ (zit. nach Baron 2005). Es handelt sich um den führenden Seefahrer und Entdecker der damals größten und technisch fortgeschrittensten Flotte. Sein Name ist Zheng He. Obwohl er hierzulande weitestgehend unbekannt ist, sind seine Reisen durchaus vergleichbar mit denen von Vasco da Gama oder Christoph Kolumbus. [...] 
Was wäre geschehen, wenn er den asiatischen Kontinent in der entgegengesetzten Richtung umrundet hätte? Und eine dieser barbarischen Gegenden die Heimat meiner Mutter gewesen wäre, das heutige Deutschland? Folgen wir der historischen Fiktion noch ein Stück weiter: was, wenn er aus unerklärlichen Gründen auf den Gedanken verfallen wäre, der von ihm „entdeckte“ Westzipfel Asiens sei ein eigener Kontinent? Und wenn dieser Kontinent nach ihm als seinem „Entdecker“ benannt worden wäre? Nehmen wir weiter an, Zheng He wäre dem Irrtum erlegen, die von ihm „entdeckte“ Region sei eigentlich Hinter-Äthiopien und die dort lebende Bevölkerung würde infolge dieses Irrtums fortan entsprechend bezeichnet – wir lebten heute als ÄthiopierInnen in Zhengistan. [...]"

Der vollständige Text ist hier zu finden:

www.uni-kassel.de/fb05/fileadmin/datas/fb05/FG_Politikwissenschaften/Entwicklungspolitik/Antrittsvorlesung_Aram_Ziai.pdf

Samstag, 5. Januar 2013

Sisyphos im Lärm der Stille (von Muepu Muamba)

Man müsse sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen, sagte Camus.
Muepu Muamba aber ist wütend. Er möchte seinen Stein jemandem an den Kopf werfen, oder, wie es in der „Wut-Rede“ heißt: „Wut euch vor die Füße zu werfen“ – aber wem?
Papst Nikolaus V, der 1455 die Unterwerfung aller Nichtchristen forderte?
Diego Cao, der 1482 das Land an der Kongomündung für Portugal in Besitz nahm?
König Leopold II, der den „Unabhängigen Staat Kongo“ als Privatbesitz ausbeutete?
Den belgischen Kolonialherren?
Oder nicht doch dem Diktator Mobutu, der Muepu wie viele kongolesische Intellektuelle ins Exil trieb?
Oder gar den heutigen Machthabern, die ihm keinen Platz in seiner Heimat, der Demokratischen Republik Kongo, geben?
 Dabei fing alles so gut an. Als Jugendlicher ging Muepu Muamba in Belgien zur Schule und studierte dort. Nach seiner Ausweisung 1968 veröffentlichte er in Kinshasa Gedichte und Erzählungen, die ihren Platz in der Literaturgeschichte haben. Mit einem Freund gründete er dort einen Verlag und wurde zur Frankfurter Buchmesse 1977 eingeladen. Ein mehrmonatiges Praktikum im Klett-Verlag schloss sich an. 1979 war Muepu Muamba Gast beim Horizonte-Festival in Berlin; von dort kehrte er nicht mehr in seine Heimat zurück.
Seine jahrelange Odyssee durch Westafrika und Europa erzählt Muepu ebenfalls in diesem Band, und das ist eigentlich viel spannender als die – wenn auch sehr wortgewaltigen – Schilderungen afrikanischen Elends. „Delirium“ etwa, das Klagelied einer Prostituierten, die Mann und Sohn verlor und nun in ihrem Elend mit Gott hadert, lässt an den Roman „Allah muss nicht gerecht sein“ von Ahmadou Kourouma denken. „Der Teufel muss intelligenter sein als du, Herr“, das ist der Stein, den diese Frau ihrem christlichen Gott vor die Füße wirft. Der Teufel erscheint hier in Gestalt zaïrischen Militärs; er hat wohl auch noch seine Handlanger in der Demokratischen Republik, in die Muepu nicht zurückkehren mag, obwohl er seine Staatsbürgerschaft nie aufgegeben hat. Für die in einem belgischen Gefängnis spielende Erzählung « Zellengemeinschaft » bekam Muepu 1988 einen stattlichen Geldpreis von einer französischen Minderheitenorganisation, die, wenn auch nur ein Bruchteil dieses aus Gewalt-, Sex- und Fäkalsprache gestrickten Textes mit seiner tatsächlichen Erfahrung während der Abschiebehaft im Gefängnis St. Gilles zu tun hat, eigentlich der belgischen Justiz einen Menschenrechtsprozess hätte anhängen müssen.
 Ein anderer wortgewaltiger afrikanischer Schriftsteller, Patrice Nganang aus Kamerun, leitet diese Anthologie mit einem Brief an den Autor ein. Auch er singt das Lied von der „Aushöhlung des Gewissens.“ Die beiden sind sich vor vielen Jahren in einer Frankfurter Straßenbahn begegnet und haben festgestellt, dass jeder seinen Stein zu wälzen hat. Nganang tut das heute erfolgreich – vielleicht sogar glücklich - in den USA, und Muepu Muamba lebt seine Stille im Lärm der Großstadt Frankfurt, die ihm seit zwölf Jahren Ersatzheimat ist. (Almut Seiler-Dietrich)

Muepu Muamba : Sisyphos im Lärm der Stille. Eine Anthologie, hg. von Barbara Höhfeld, mit einem Brief von Patrice Nganang. Heidelberg: Draupadi Verlag 2012, 191 Seiten. 

Diese Rezension von Almut Seiler-Dietrich www.afrika-interpretieren.de ist zuerst in  "Literaturnachrichten" Nr. 114, Herbst 2012 im Druck erschienen.