Dienstag, 15. November 2022

Weshalb weiß man in Afrika mehr über den Regenwald in Brasilien als über die Regenwälder Afrikas?

Vanessa Nakate machte im Januar 2020, als sie beim Weltwirtschaftsforum in Davos bei einer Pressekonferenz mit Klimaaktivist*innen sprach, die Erfahrung, dass sie als einzige Schwarze aus dem von Associated Press veröffentlichten Foto herausgeschnitten worden war, und erklärte daraufhin: "  „Ihr habt nicht nur ein Foto gelöscht. Ihr habt einen Kontinent gelöscht.“[20] " (Wikipedia)

Dann wurde sie darauf aufmerksam, dass sie in keiner Weise ein Sonderfall war. Vielmehr weiß man in Afrika über viele Vorgänge, die in den USA und Europa vorgehen, mehr als über die Entwicklungen in Gesamtafrika. Das liegt an der Berichterstattung der großen Nachrichtenagenturen. So ist dort immer wieder über den Regenwald im Bereich des Amazonasbeckens die Rede. Die großen Regenwälder in Äquatorialguinea, in Gabun, im Kongobecken und in Zentralafrika kommen aber viel seltener vor. 

Ich als Mitglied der Redaktion der Nachbarschaft wusste nicht einmal, dass Gabun und Kamerun auch zu den Staaten gehören, über die sich das zentralafrikanische Regenwaldgebiet erstreckt. 

Vanessa Nakate reagierte, als sie sich über den afrikanischen Regenwald mit dem Kongobecken im Zentrum informiert hatte, mit der Gründung eine Organisation zum Schutz dieses Regenwaldes. In ihrem Buch schreibt sie darüber im Kapitel "Wir sind alle Afrika": 

"Ein Mann aus dem Publikum äußerte seine Verwirrung darüber, dass die Abholzung des Amazonas-Regenwaldes weltweit verurteilt wurde – auch hier in Afrika –, dass aber niemand über die Zerstörung des Kongo-Regenwaldes redete." (S. 90)
"Das Kongobecken ist nach dem Amazonas-Regenwald das größte zusammenhängende Regenwaldgebiet der Welt, auch bekannt als 'zweite Lunge' der Welt und besitzt genau wie der Amazonas eine reiche Biodiversität." (S.91)
"84 Prozent der Abholzung sind auf traditionelle Methoden wie Brandrodung zurückzuführen. Zwischen 2002 1014 wurde im Kongobecken eine Waldfläche größer als Bangladesch gerodet. Fatalerweise nahm die Abholzung im Jahr 2020 weltweit um 12 Prozent zu, auch in vielen Ländern der Kongobecken-Region und das, obwohl sich während der Corona– Pandemie die meisten Wirtschaften im Lockdown befanden. In der DRK, in Kamerun und der zentralafrikanischen Republik überstieg der Waldschwund im Jahr 2020 das Ausmaß von 2019. [...] Die Daten zeigen, dass sich zu viele Länder in die falsche Richtung bewegen." 
(S. 92)
"Ich hatte die Gelegenheit, meinen Kongo-Streik mit auf den Weltklimagipfel nach Madrid [2019] zu nehmen. [...] Nachdem ich mit ein paar anderen Aktivistinnen vergeblich den ugandischen Pavillon gesucht hatte, entdeckten wir den Pavillon der Demokratischen Republik Kongo. Ich unterhielt mich mit den Leuten, die dort Dienst hatten, über meine Streiks für den Kongo-Regenwald.
Ich stieß auf wenig Begeisterung. Sie bemühten sich, mir klarzumachen, dass ich, da ich schließlich weder in ihrem Land gewesen sei noch jemals den Regenwald besucht hatte, keinen Begriff von den Bedürfnissen der dortigen Bewohnerinnen hätte, geschweige denn von der Bedeutung der Weiterentwicklung für die Region Kongo. Die Kongolesen bräuchten ordentlich gebaute Häuser, sagte ein Mann, was ich dahingehend deutete, dass das Holz für die Errichtung dieser Häuser aus dem Regenwald kommen sollte. [...]
Es stimmt, ich bin nie im Kongo gewesen, und womöglich durchdringe ich die Entwicklungsbedürfnisse der Menschen im Kongobecken auch nicht vollständig. Trotzdem kann es nicht sinnvoll sein, die 'zweite Lunge' der Welt zu zerstören, um  Möbel, Palmöl, Baustoffe, Mineralien oder fossile Brennstoffe zu gewinnen. [...]
Auch ich bin der Meinung, dass es absurd ist, ein Individuum könnte als Sprecher*in eines ganzen Kontinents auftreten oder auch nur dafür gehalten werden. Trotzdem wurde ich nach der AP-Entscheidung, mich von dem Davos-Bild zu eliminieren, von so gut wie jeder und jedem Interviewpartner*in nicht nur nach den Auswirkungen des Klimawandels auf Uganda gefragt, sondern immer auch auf die Konsequenzen für andere Teile Afrikas angesprochen. [...]
Trotzdem bin ich der festen Überzeugung, dass wir den Mund aufmachen müssen – 'um das Schweigen zu brechen' [...]. Ich sehe meine Rolle im Klimaschutz darin, Gespräche über Themen anzustoßen, über die viele Menschen noch nie gesprochen haben, und auf die zerstörerischen Strategien und Investitionen von Banken, Hedgefonds, multinationalen Konzernen und Regierungen aufmerksam zu machen, denen es allen am liebsten wäre, wir anderen hätten keine Ahnung, was sie im Schilde führen. [...] 
Kein Land, ganz egal wo, ist einfach nur ein Land. Was im Regenwald des Kongobeckens passiert, betrifft nicht nur die Menschen in Zentralafrika, sondern beeinflusst das Wettergeschehen weltweit. Die Klimakrise hält sich weder an geopolitische Grenzen noch ein politische Blöcke oder regionale Handelsverbände. Deshalb ist das, was im Kongo passiert, nicht nur Angelegenheit der Kongolesen oder ihre Nachbarn. Es geht uns alle an.

Und schließlich bin ich absolut der Meinung, dass wir auf unseren Plattformen mehr Diversität brauchen und mehr junge Aktivist*innen die Möglichkeit haben müssen, über Herausforderungen zu sprechen, mit denen ihre Heimatländer oder Regionen zu kämpfen haben. Jeder Aktivist*in hat eine Geschichte zu erzählen. Jede Geschichte birgt eine Lösung in sich. Und jede Lösung kann ein Leben verändern." (Vanessa Nakate: Unser Haus steht längst in Flammen. Warum Afrikas Stimme in der Klimakrise gehört werden muss. Rowohlt 2021, S.102-104)

Ein Schlaglicht auf die Geschichte des Kongobeckens

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