Donnerstag, 12. Juni 2025

Zum Kulturvergleich Schweiz und Kamerun

 Die Afroschweizerin Melara Mvogdobo wurde 1972 in Luzern geboren. Sie hat mehrere Jahre in Kamerun und in der Dominikanischen Republik gelebt. Während ihrer Jahre in der Schweiz hat sie als Lehrerin, Erwachsenenbildnerin und Trauma-Beraterin gearbeitet.

In ihrem Roman (Großmütter. Transit, Berlin 2025) berichtet sie über ihre - halb fiktiven - Großmütter: 

Die Schweizer Großmutter wächst auf einem Bauernhof auf. Als sie am Ende ihres Lebens im Krankenhaus zurückdenkt,  merkt sie, dass sie über ihre Tochter, die sie besuchen wird, im Grunde nicht viel weiß. "Wir sind nicht so eine Familie, in der man Gefühle offen zur Schau trägt. Auf jeden Fall nicht die Trauer und auch die Freude nicht. Den Zorn vielleicht. Zorn stand von jeher aber nur den Männern zu." (Zitat)

Die Kameruner Mutter hat sich nicht alles gefallen lassen, sondern sich gegen die übliche Polygamie gewehrt. Das war ein Stück Selbstbehauptung, doch ihr Ehemann war ihr deshalb ein Leben lang böse, denn er hatte den Eindruck, dass sie ihm etwas, was ihm zustand, weggenommen hatte.

Es wird gezeigt, wie sie jetzt ihren Mann auf seinen Wunsch hin ins Krankenhaus bringt. Nun wird sie ihn los sein, der sie ihr Leben lang gedemütigt und geschlagen hat. Aber obwohl er jetzt hilflos jammert und schreit, hat er noch die Kraft, seine Wut an ihr auszulassen. "Genug ist genug", denkt sie. "Ich glühe innerlich vor Zorn. Während vor all diesen Leuten im Wartesaal des Arztes ein weiteres Stück meiner Würde sich ins Nichts auflöst." (Zitat)

So unterschiedlich die Verhältnisse sind, so ähnlich ist die Unterdrückung, der die Frauen ausgesetzt sind. Das wird nicht ausführlich erläutert, sondern nur durch schwarze Schrift für die Schweizerin und rote für die Großmutter in Kamerun angezeigt. 

Die Enkelin erinnert sich, wie stolz die erwachsenen Frauen um sie herum waren, als das Frauenwahlrecht 1946 in Kamerun eingeführt wurde. „Wir waren die ersten in ganz Afrika. Sogar die Frauen der ,Blancs‘, erklärten uns unsere Lehrer, dürfen in vielen Ländern bis heute noch nicht wählen.“ (In der Schweiz wurde das Frauenwahlrecht erst 1971 eingeführt, im Kanton Kanton Appenzell Innerrhoden sogar erst 1990. Weil nur die  Männer wahlberechtigt waren und den Frauen kein Wahlrecht geben wollten, musste es per Gerichtsbeschluss gegen die Männer durchgesetzt werden. Das geschah erst im November 1990. Also erst nach der deutschen Wiedervereinigung, die am 3.10.1990 rechtskräftig wurde.) 

Die Kamerunerin erinnert sich, dass ihre Mutter sich nicht über das Wahlrecht freute: 

„Sie wusste es besser. Worte sind nichts als Worte. Auch wenn sie auf einem wichtigen Blatt Papier stehen. Sie haben keinerlei Bedeutung. Nicht für uns.“

Dazu eine Rezension des Romans aus der Frankfurter Rundschau, 9.6.2025

"Es ist schon erstaunlich, von diesen beiden Lebensläufen in Kamerun und in der Schweiz so eng nebeneinander geführt zu erfahren. So unterschiedlich die Kulturen sind, so vergleichbar ist die herabwürdigende Art, wie mit Frauen umgegangen wird. Tragischerweise sind es in beiden Lebensgeschichten eben nicht nur Männer, sondern auch Frauen, die mit anderen Frauen in den Unterdrückungsmustern beider Gesellschaftssysteme verhaftet und nur selten zu liebevollen Gesten gegenüber einer anderen Frau fähig sind. Es gibt dagegen in beiden Lebensberichten auch schöne Momente. Erstaunlich ist, wie beide Frauen in sich einen unzerstörten Kern in ihren Herzen bewahrt haben und Kraft daraus schöpfen."