Mittwoch, 4. Juli 2018

Afrikas Sprachdebatte braucht ein Update

 Eine «Dekolonisierung des Denkens» forderte Ngugi wa Thiong’o 1986. Nun liegt der Text auf Deutsch vor – aber ist er noch aktuell?

Die Denker des subsaharischen Afrika kämpfen seit Jahrzehnten gegen dieVerinnerlichung des intellektuellen Rassismus und Kolonialismus. Es gelte, sich endlich vom fortdauernden «Fluch des Ham» zu befreien, forderte der kongolesische Literaturwissenschafter Alain Mabanckou bei seiner Antrittsrede am Collège de France im März 2016. Im Widerstand gegen die kulturelle Vereinnahmung während der Kolonialzeit besang die Négritude-Dichtung die Schönheit der afrikanischen Kulturen. Ihr Wortführer Léopold Sédar Senghor forderte «afrikanische Anwesenheit» (daher auch der Name des 1947 gegründeten Pariser Verlagshauses Présence Africaine). «Lasst uns ‹hier!› rufen, wenn die Welt wiedergeboren wird», schrieb Senghor im «Gebet an die Masken», als die behauptete moralische Überlegenheit der Europäer gerade auf den Schlachtfeldern verblutet und in den Lagern ermordet worden war. Aber nicht alle afrikanischen Literaturschaffenden teilten die Ideen der Négritude. «Ein Tiger verkündet nicht seine Tigritude – er springt», sagte Wole Soyinka 1962 auf einer Konferenz in Kampala, der Hauptstadt des gerade un abhängig gewordenen Uganda.

Sprache färbt das Denken 
Zu den Unabhängigkeitsfeiern war auch das Theaterstück «The Black Hermit» von James Ngugi aufgeführt worden, einem kenyanischen Studenten der Makerere-Universität. Er sah die Hauptprobleme in Analphabetentum, Stammeswesen und Religion. Ngugiwa Thiong’o, wie er sich seit 1970 entsprechend der Familientradition nennt, schrieb vier Romane auf Englisch, bis er erkannte, dass die Sprache Teil des kolonialen Denkens ist – nicht nur, weil sie ein europäisches oder europäisch gebildetes Publikum anspricht, sondern weil sie zwangsläufig die Inhalte verfremdet. Auch wenn Autoren afrikanische Sprachbilder, Sprichwörter und Rhythmen benutzten, wie etwa Chinua Achebe im Englischen und Ahmadou Kourouma im Französischen, führe das wohl zu einer Bereicherung dieser Sprachen, nicht aber zur Afrikanisierung des Denkens. Die Sprachendebatte tobte heftig in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts. 1986 wurde der erste – und bisher einzige – Literaturnobelpreis an einen schwarzafrikanischen Autor vergeben, den Nigerianer Wole Soyinka. Er hätte ihn nie bekommen, wenn er in seiner Muttersprache Yoruba geschrieben hätte, sagte man in Afrika; mit seinem Englisch habe er sich den Europäern angebiedert.
Im selben Jahr er schien «Decolonizing the Mind» von Ngugi wa Thiong’o, das jetzt endlich ins Deutsche übersetzt wurde. Dabei entspricht der Untertitel «Essays über afri kanische Sprachen in der Literatur» nicht dem Original: «The Politics of Language in African Literature». Es geht jedoch im Buch weniger um afrikanische als vor allem um europäische Sprachen in Erziehung, Kultur und Literatur Afrikas. Ngugis Schrift ist eine harte Auseinandersetzung mit dem postkolonialen Imperialismus, in dem die Sprache weiterhin als Herrschaftsinstrument fungiert. Dass auf «Schwert und Gewehr kugel (. . .) Kreide und Schultafel» folgten, ist eine Beschreibung der Kolonialisierung, die ja nicht nur physische, sondern auch geistige Inbesitznahme war. Die afrikanischen Sprachen wurden zu «Buschsprachen» degradiert, die höchstens als Studienobjekte der Ethnologen Bestand hatten.
 Die Machthaber spielen mit
Warum aber haben die unabhängigen afrikanischen Nationen dann nicht die Kreide zum Schreiben ihrer Landessprachen eingesetzt? Warum sind die afrikanischen Schriftsteller hier nicht voran gegangen? Ngugi wa Thiong’o sieht in seinem Essay die Hauptschuld in den neokolonialen Staatsführungen. Das ist sicher auch heute noch richtig,wenn man bedenkt, dass sie Schulbücher lieber als Geschenke der ehemaligen Kolonialherren annehmen, als sich um einheimische Produktion zu kümmern. Dabei gibt es ja eine umfangreiche Literatur in afrikanischen Sprachen, insbesondere in Swahili, der Lingua franca Ostafrikas; aber sie wird kaum übersetzt und deshalb weltweit nicht wahrgenommen. Dass Autoren eine grössere Verbreitung ihrer Werke durch die Verwendung europäischer Sprachen anstreben, kann man ihnen nicht verübeln. Und wer in Afrika lesen kann, liest meist auch Eng lisch bzw.Französisch oder Portugiesisch. Aus heutiger Sicht ist weniger die Verwendung dieser Sprachen der Skandal als vielmehr die Tatsache, dass es kaum Verlagshäuser in Afrika gibt und dass Transport und Zölle aus Übersee importierte Bücher unerschwinglich machen. Hier bietet sich das Internet zur Überwindung räumlicher und sprachlicher Grenzen an; dabei ist interessant zu beobachten, wie locker afrikanische Blogger zwischen den Sprachen hin und her wechseln und wie kreativ sie mit Orthographie und Grammatik umgehen. «Dekolonisierung des Denkens» ist zweifellos ein historischer Grundlagen text,wird aber der heutigen Wirklichkeit nicht mehr gerecht. Von einer «Zerstörung der afrikanischen Kulturen» durch die Bevorzugung europäischer Sprachen kann so allgemein nicht die Rede sein, allenfalls davon, dass auch heutzutage gesellschaftlicher Aufstieg und inter nationales Ansehen mit der Verwendung europäischer Sprachen einhergehen.

Aus heutiger Sicht 
Die Herausgeberinnen haben fünf Texte international bekannter Autorinnen und Autoren angehängt, die den Essay kommentieren. Der interessanteste Beitrag stammt von Ngugis Sohn Mukoma wa Ngugi. Er knüpft an die Familiengeschichte an, zeigt aber auch realistische Optionen zum Umgang mit dem Problem auf, etwa mit dem Hinweis auf das Online Magazin «Jalada», das Schreiben und Übersetzen in afrikanischen Sprachen in einer internationalen Community betreibt. Auch Boubacar Boris Diop aus Senegal kümmert sich um Übersetzungen in afrikanische Sprachen. Der Kameruner Achille Mbembe beschreibt die Gebrochenheit der postkolonialen Welt. Petina Gappah aus Simbabwe schildert die Praxis des Schreibens in Englisch und Shona. Ganz anders sieht es in Südafrika aus: Sonwabiso Ngcowa, 1984 geboren, erinnert sich nicht mehr an die Zeiten, als «Bantu- Erziehung» ein Mittel war, die farbige Bevölkerung von der Teilhabe an der modernen Welt auszuschließen. Er sieht in der Dominanz des Englischen den Fortbestand weißer Vorherrschaft und fordert eine «Sprachrevolution», um das Sterben der südafrikanischen Sprachen zu verhindern. Erstaunlicherweise ist nirgendwo die Rede vom Vorteil der Mehrsprachigkeit, der in der Befähigung zum Agieren in der globalisierten Welt besteht. Die behauptete Glottophagie findet, wenn überhaupt, auf politischer Ebene statt, etwa wenn,wie unlängst in Kamerun, ein Konflikt zwischen «Anglofonen» und «Frankofonen» aufflammt: Tribalismus als koloniale Restmasse. Die afrikanischen Sprachen sind höchst lebendig und inzwischen auch weitgehend verschriftlicht. Es ist in der Tat Zeit für die «Dekolonisierung des Denkens» und die Übernahme kultureller Eigenverantwortung in den afrikanischen Gesellschaften.

 Ngugi wa Thiong’o: Dekolonisierung des Denkens. Essays über afrikanische Sprachen in der Literatur. Aus dem Englischen von Thomas Brückner. Unrast-Verlag, Münster 2017. 272 S. 

ALMUT SEILER-DIETRICH

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