Freitag, 26. September 2025

Olaf Bernau: Brennpunkt Westafrika

 Olaf Bernau: Brennpunkt Westafrika. Die Fluchtursachen und was Europa tun sollte, München 2022

"[...] B. D. spricht vier Sprachen fließend: BozoFulfuldeSonghai und Bambara. Zudem kann er sich rudimentär in Tamaschek und Französisch verständigen. Diese Sprachen sind keine Dialekte, sie gehören zum Teil unterschiedlichen Sprachfamilien an. Dennoch bewegt sich B. D. leichtfüßig zwischen ihnen. Ich habe das selber mehrfach erlebt, unter anderem 2018, als er bei einem hochgradig erhitzten Streit im Dorf, T. M. stundenlang zwischen Viehhirten (die Fulfulde sprachen) und Ackerbauern (die Bamba sprachen) übersetzt hat. Dass sich B. D. in sechs Sprachen verständigen kann, hat nichts mit Schulbildung zu tun. Denn B. D. hat nie eine Schule besucht. Nein, es ist Ausdruck einer auf Vielfalt und Komplementarität basierenden Lebensweise, wozu auch gehört, dass drei der sechs Sprachen Muttersprachen von B. D. sind. Einmal mehr dürfte deutlich werden, dass das Erklärungsmuster 'ethnischer Konflikt' eine Scheinerklärung ist, oder präziser: ein Mythos. Denn eigentlich müsste erklärt wer/den, weshalb unter bestimmten Voraussetzungen ethnische Identitäten, eine feindliche Ausrichtung gegenüber anderen Identitäten erhalten. In aller Regel hat dies mit handfesten Interessenkonflikten zu tun, wobei es auch passieren kann, das alte Restaurant die Maus reaktiviert werden. Beispielsweise gibt es zwischen Fulbe und Dogon ein jahrhundertealte Konfliktgeschichte, die auch damit zu tun hat, dass bestimmte Fulbe-Gruppen bis Ende des 19. Jahrhunderts Dogon-Dörfer angegriffen und versklavt haben. (S. 48/49)

"Frauen haben in Afrika seit jeher eine starke Position – aller Diskriminierung zum Trotz. Das hat vor allem mit ihrer Rolle als Mutter zu tun, was nicht mit konservativen 'Frau am Herd'- Ideologien in Europa verwechselt werden sollte. Hintergrund ist vielmehr, dass in Afrika 'die Gebärfähigkeit als eine Frage der menschlichen Ökologie, des Überlebens in der Gruppe und der Erhaltung der Gattung privilegiert' wird, wie Omolara Ogundipe-Leslie erläutert. Die starke Position von Frauen wurde nicht nur für vorkoloniale Gesellschaften ausführlich beschrieben, häufig mit der These, dass es erst die Kolonialmächte waren, die den Status von Männern gegenüber Frauen erheblich aufgewertet haben. Auch nach der Unabhängigkeit griffen Frauen immer wieder an entscheidenden Punkten ins gesellschaftliche Geschehen ein, nicht zuletzt in Westafrika: In Guinea führten Marktfrauen im Juni 1977 Massenproteste gegen das Handelsmonopol des Staates an. Am Ende musste das verhasste Regime von Sékou Touré die allmächtige Wirtschaftspolizei auflösen und den Handel umfassend liberalisieren [...] Ähnlich 2014 in Burkina Faso: Auch dort waren es Frauen, die zu Tausenden der schwerbewaffneten Polizei mit Kochlöffeln  die Stirn boten und somit maßgeblich dazu beitrugen, dass der Langzeitherrscher Blaise Compaoré rasch zurücktrat. Diesen historischen Erfahrungen entspricht, dass Frauen im Alltag durchaus sichtbar agieren, in Ländern, die Ghana auch als erfolgreiche Unternehmerinnen." (S. 51)

Warum Migrantinnen nach Europa aufbrechen

Fest steht, dass Migration nach Europa das Resultat einer langen und weitverzweigten Mobilitätsgeschichte in Westafrika ist. Vor diesem Hintergrund gilt es nun, jene der Motivationen näher zu beleuchten, die einer Migrationsentscheidung zu Grunde liegen. Ein Teil der Antwort ergibt sich aus der Sache selbst: Die Menschen gehen, weil Ortsveränderungen in Westafrika schon seit jeher eine ganz normale Existenzsicherungsstrategie darstellen. Und dieser kulturelle Code sollte stets mitgedacht werden, wenn es um junge Leute geht, die sich zum kopfschüttelnden Staunen des europäischen Publikums tagelang auf völlig überfüllte Ladeflächen von Pickups drängen und bei sengender Hitze durch die Wüste fahren. Denn die Tatsache, dass Menschen bereits seit Jahrhunderten aufbrechen, wirkt wie eine historische Echokammer, die die Migra/tionRichtung Europa zu einem sozial und kulturell plausiblen Akt macht. Gleichwohl möchte ich vor einer Banalisierung des Migrationsgeschehens warnen. Eine Verlockung, der nicht zuletzt Journalist:innen immer wieder erliegen, wenn sie die gesellschaftliche Selbstverständlichkeit westafrikanischer Mobilität als Bestätigung dafür nehmen, dass es den jungen Leuten in erster Linie um Abenteurertum oder Neugier ginge. Denn auch wenn Migranten aus Westafrika ihre Migration mit derartigen Begriffen belegen, bedeutet es keineswegs, dies ihre individuellen Migrationsentscheidungen losgelöst von den meist äußerst schwierigen Lebensverhältnissen in Afrika erfolgen würden. Dies zeigen auch zahlreiche Untersuchungen, unter anderem eine 2019 vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) veröffentlichte Studie, die in vieler Hinsicht beispiellos sein dürfte." (S. 110).

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