Als
Ostern 1967 das ostnigerianische Iboland sich zum unabhängigen Staat
Biafra erklärte, war Wole Soyinka gerade zum Leiter der
Theaterabteilung an der Universität Ibadan im westnigerianischen
Yorubaland ernannt worden. Er konnte den Posten nicht antreten, denn
wegen seiner lautstarken Unterstützung Biafras wurde er von der
Zentralregierung für zwei Jahre inhaftiert. Damals war er schon ein
weltweit anerkannter und preisgekrönter Dichter und Theaterautor.
Sein Roman „The Interpreters“ war in London erschienen und mit
dem Jock-Campbell-Preis für Commonwhealth-Literatur ausgezeichnet
worden. Mit diesem Epos der Ernüchterung, die auf die Euphorie der
Unabhängigkeit folgte, hatte er sich in Nigeria viele Feinde
gemacht. Im Norden des Landes in Isolierhaft, ohne Bücher, ohne
Kontakt zur Außenwelt schrieb er mit „soy-ink“ auf
Toilettenpapier – diese Aufzeichnungen erschienen 1972 unter dem
Titel „The man died“. In der Tat hatte man ihn für tot gehalten.
Dem PEN-Club, für dessen deutsche Sektion Janheinz Jahn damals
Generalsekretär war, gelang es mit Hilfe des Journalisten Gerd
Meuer, ihn ausfindig zu machen und seine Befreiung im Herbst 1969 zu
erlangen. Soyinka verließ sein zum Ort des Schreckens gewordenes
Land und ließ sich in den USA nieder. Biafra kapitulierte im Januar
1970.
In
Amerika schrieb Soyinka den Roman „Season of Anomy“. Er verlegt
die Mythe von Orpheus und Eurydike in die Wirren des Biafrakrieges
und rückt so Gegenwärtiges in einen historischen-kulturellen
Kontext.
Die
Geschichte beginnt in dem idyllischen Dorf Aiyéró, einer Art
Utopia, dem Gegenentwurf zur verwestlichten Gesellschaft in „The
Interpreters“. Hier bringen die jungen Leute, die in der Stadt
arbeiten, nicht neue, zerstörerische Ideale ins Dorf zurück,
sondern sie verstehen sich als Außenposten afrikanischer Tradition,
die sie in der Stadt pflegen. Touristen und Soziologen besuchen den
Ort, der so Berühmtheit erlangt. Das mächtige Kakaokartell schickt
seinen Werbefachmann Ofeyi nach Ayéró, das als ideale Kulisse für
einen Werbefilm erscheint. Iriyise, Ofeyis Hauptdarstellerin und
Geliebte, begleitet ihn. Beide sind vom harmonischen Leben in Ayéró
fasziniert. Ofeyi lässt sich von den Ältesten die Grundlagen dieser
Harmonie erklären. Eigentlich ist es ganz einfach: das Land gehört
denen, die es bearbeiten, das Meer denen, die darin fischen, die
Religion der Kolonialherren wird durch den traditionellen Ahnenkult
ersetzt; jeder hilft jedem und keiner häuft Profite an. Ofeyi
möchte diese Art des Gemeinschaftslebens zum Modell einer neuen
Gesellschaft machen. Dabei sollen ihm die jungen Leute aus Ayéró
helfen. Das Kakaokartell, Vertreter des Konsumterrors, sieht sich
durch diese Bewegung - eine Art Vorläufer von Attac - in seiner
Dominanz bedroht und sagt den Film ab. Ofeyi wird auf Studienreise
nach Europa geschickt. Dort lernt er einen Landsmann kennen, der,
weil er ein paar Semester Zahnmedizin studiert hat, nur der
„Zahnarzt“ genannt wird. Dieser vertritt die These, jede
wirkliche Veränderung lasse sich nur durch Gewalt erreichen. Ofeyi,
der zunächst jede Gewalt ablehnt, lässt sich nach und nach von
dieser Idee überzeugen und diskutiert sie nach seiner Rückkehr mit
den Ältesten von Ayéró, die ihm bestätigen, dass auch die
Gründung ihrer Gemeinschaft nicht ohne Gewalt ablief, aber auch
daran erinnern, dass „wer Wind sät, Sturm ernten wird“. Gewalt
sei allenfalls zur Verteidigung akzeptiert. Während noch über die
Errichtung einer neuen, friedlichen und afrikanischen Traditionen
folgenden Gesellschaft diskutiert wird, hat das Kartell schon einen
Sturm entfacht. Erst trifft er die Männer aus Ayéró, die als
austauschbare Vorposten am verwundbarsten sind. - eine Anspielung auf
die Pogrome an den Ibo in Nordnigeria im Jahr 1966. Dann breitet
sich der Bürgerkrieg über das ganze Land aus. „Operationen“
nennt der „Zahnarzt“ die Überfälle, deren Schilderung keine
Scheußlichkeit auslässt. Kaltblütig wird das Morden organisiert.
Der „Zahnarzt“ sagt dazu: „Es ist an und für sich ganz
einfach: Man muss die Schlange auf den Kopf treffen, um sie
unschädlich zu machen.“ Es gibt keine Unbeteiligten: Alle befinden
sich in dieser Hölle des zwanzigsten Jahrhunderts, die mit Giftgas,
Sprengstoffen und Erpressung durch Verstümmelung funktioniert.
Ofeyi bahnt sich seinen Weg durch scheinbar sinnlose Massaker auf der
Suche nach Iriyise, die das Kartell entführt hat, um ihn zu
bestrafen. Er wird von Zaccheus begleitet, dem Leiter der Band, zu
deren Musik Iriyise früher die Werbespots des Kartells sang und
tanzte. Unterwegs sehen sie, wie Menschen in einer Kirche eingesperrt
und verbrannt werden. Das erinnert an das Massaker von Oradour durch
die SS am 10. Juni 1944 und eine Szene des – erst 1978 gedrehten –
Fernsehfilms „Holocaust“. Wie ein Handbuch des Zynikers klingt
es, wenn Batoki, der oberste Massenmörder, erklärt: „Ich sage
Ihnen, es sind alles Feiglinge. Wenn man ein paar von ihnen
umgebracht und einige Dutzend eingesperrt hat, dann verhalten sich
die übrigen schon richtig und ordnen sich unter.“
Und wenn
nicht, bringt man eben noch ein paar tausend mehr um.
Wie durch
ein Wunder gelangen Ofeyi und Zaccheus unversehrt zum Lager Temoko.
Der Höllenhund Zerberus erscheint in der Gestalt des stumpfsinnigen
Gefangenwärters Suberu, und Charon ist der klumpfüßige
Lagerkommandant Karaun. Er erlaubt Ofeyi, in die Hölle des Lagers
hinabzusteigen und dort Iriyise zu suchen. Das bietet die Gelegenheit
zu einer ausführlichen Besichtigung des Lagers, das letztlich nicht
schlimmer als die Hölle draußen ist. Ofeyi findet Iriyise in der
Abteilung für Verrückte, wird aber dann selbst festgehalten.
Zaccheus und der Zahnarzt befreien beide, aber Iriyise, die das Leben
schlechthin verkörperte, liegt im Koma. Wird sie wieder aufwachen?
Der letzte Satz ist optimistisch: „In den Wäldern begann das Leben
sich zu regen.“
Inzwischen
gibt es eine umfangreiche Literatur, die die afrikanischen
Bürgerkriege der letzten Jahrzehnte zum Thema hat. „Zeit der
Gesetzlosigkeit“ war einer der ersten. Der Roman orientiert sich
stark an den europäischen Modellen, die seinerzeit noch sehr präsent
waren. Es schien damals auch unvorstellbar, dass dem afrikanischen
Kontinent je wieder so etwas schreckliches wie der Biafra-Krieg
widerfahren könnte.
Seit er
1986 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, gilt Wole
Soyinka als moralische Instanz seines Volkes, ja ganz Afrikas. Seine
Wortgewalt setzt er nicht nur poetisch sondern auch politisch
überzeugend ein, als begehrter Redner und Interviewpartner, der zwar
seit langem wieder in Nigeria heimisch ist, aber häufig in der
ganzen Welt herumreist – immer nur mit Handgepäck.
Am 13.
Juli feiert Wole Soyinka seinen 80. Geburtstag, überschattet vom Tod
seiner ältesten Tochter, die im Dezember starb.
Almut
Seiler-Dietrich
Werke:
„The
Interpreters“ London 1965,
„Die Ausleger“, deutsch
von Inge Uffelmann Nachwort von Eckhard Breitinger, Walter Verlag
1983, dtv-Taschenbuch 1986, Neuauflage:
Ammann
Verlag,
Zürich 2002).
„The
man died“, „Der Mann ist tot“, deutsch von Ulrich Enzensberger
und Melanie Walz, Ammann Verlag 1987 und als Fischer-Taschenbuch
1991.
„Season
of Anomy“, London 1973 .
Die
deutsche Übersetzung von Wolfgang Strauß wurde 1977 im Ostberliner
Verlag „Volk und Welt“ unter dem Titel „Zeit der
Gesetzlosigkeit“ und mit einer „Nachbemerkung“ von Burkhard
Forstreuter herausgegeben. Der Walter-Verlag druckte die Ausgabe 1979
nach, allerdings ohne das Nachwort und unter dem Titel „Die Plage
der tollwütigen Hunde“.
1986, anlässlich des Nobelpreises, gab es eine
Ullstein-Taschenbuchausgabe mit einer von Inge Uffelmann
überarbeiteten Übersetzung und dem ursprünglichen Titel „Zeit
der Gesetzlosigkeit“.
Seine
Erinnerungen sind in vier Bänden erschienen:
Aké,
the years of childhood 1981; Aké,
Jahre der Kindheit, Ammann Verlag,
Zürich 1986, Neuauflage 2003,
Isarà,
a voyage around essay. Isarà. Eine Reise rund um den Vater. Deutsch
von Inge Uffelmann. Ammann Verlag,
Zürich 1994,
Ibadan,
the penkelemes years. Ibadan. Streunerjahre 1946-1965 - Erinnerungen.
Deutsch von Irmgard Hölscher. Ammann Verlag, Zürich 1998,
You
must set forth at dawn, 2006; Brich
auf in früher Dämmerung. Erinnerungen 1960-1999.
Deutsch von Inge Uffelmann. Ammann Verlag, Zürich 2008,
Politische
Essays:
The
burden of memory.
Die Last des Erinnerns. Was
Europa Afrika schuldet und was Afrika sich selbst schuldet,
deutsch von Patmos Verlag, Düsseldorf 2001,
A
climate of fear, „Klima der Angst“ deutsch von Gerd Meuer, Ammann
Verlag, 2005
„The
first exile“ - „Das erste Exil“ in einer wunderschönen
zweisprachigen, mit Offsetlithographien von Jürgen Brodwolf
geschmückten Ausgabe, deutsche Übersetzung: Gerd Meuer, Verlag
Thomas Reche.2009