Dienstag, 25. November 2014

Patrice Nganang: Zeit der Pflaumen

«Ich betrachte die Welt, wie sie ist, und ich besinge sie.» Das sagt der Kameruner Dichter Louis-Marie Pouka – den es wirklich gegeben hat – zu seinem Freund, dem Politiker Ruben Um Nyobé – den es ebenfalls gegeben hat. Der Dichter und der Politiker sind die Pfeiler des monumentalen historischen Romans «Zeit der Pflaumen»; es ist dies der zweite Band von Patrice Nganangs auf eine Trilogie angelegter Geschichte Kameruns. Im ersten Band ( «Der Schatten des Sultans»,Peter-Hammer-Verlag, 2012) ging es um Sultan Njoya und dessen Beziehungen zum deutschen und dann zum französischen Kolonialherrn. Nun präsentiert uns Patrice Nganang seine Heimat Kamerun während des Zweiten Weltkrieges.

Die Henne, die ihre Eier frisst

Man hat sich gerade mit den Franzosen arrangiert: Kamerun ist keine Kolonie mehr, sondern Völkerbundsmandat. In der Westkameruner Stadt Edea lässt es sich recht angenehm leben. Die Frauen betreiben einen gut bestückten Markt und eine Bierkneipe mit freundlichen Bardamen, die auch schon einmal junge Männer in die Liebe einweihen. Ausgerechnet an diesem Ort organisiert Pouka einen Dichterzirkel. Er hat es sich in den Kopf gesetzt, seine Landsleute mit Metaphern und Versfüssen vertraut zu machen, und findet auch ein halbes Dutzend Interessenten. Dass die Deutschen in Paris einmarschiert sind, ist bekannt, und es wird mit Schadenfreude darüber diskutiert. Da taucht plötzlich ein gewisser Leclerc auf, der den Auftrag hat, eine Truppe zur Befreiung Frankreichs zusammenzustellen. General de Gaulle muss den Briten beweisen, dass er über eine Armee verfügt, und Kamerun, der «Knotenpunkt des französischen Reiches in Zentralafrika» wird flugs wieder zur Kolonie erklärt, seine Bevölkerung zur Loyalität und zum Kampf gegen die Deutschen aufgerufen. Dazu erscheint de Gaulle höchstpersönlich, hält eine flammende Rede und nimmt schwitzend die Ergebenheitssprüche der einheimischen Fürsten entgegen. Kamerun wird fortan auf der Seite des «Freien Frankreich» stehen.
Die angehenden Dichter werden nun zu Infanteristen, der Einfachheit halber «Senegalschützen» genannt, und der Roman verfolgt ihr Schicksal. Da ist Hebga, der Baumfäller, dessen Mutter unter mysteriösen Umständen im Wald ums Leben kam und der mit der Axt in der Hand ihren Mörder sucht. Da ist der fünfzehnjährige Bilong, der sich in die Bardame Nguet verliebt hat. Da sind Philotée, der Stotterer, und Aloga, der Sänger. Sie ziehen durch ganz Kamerun bis in die Libysche Wüste, barfuss und nur mit Macheten bewaffnet. Andere schliessen sich ihnen an: Sie werden die Helden sein, die in der Schlacht von Kufra im März 1941 die Italiener und ihre Askaris besiegen.
Pouka schreibt ein Preisgedicht über die Gefallenen, in klassischen französischen Alexandrinern, das im Rundfunk rezitiert wird. Er diskutiert mit Um Nyobé über Politik und Gerechtigkeit, bereits ahnend, dass sein Freund im Unabhängigkeitskampf ermordet werden wird, von Frankreich, «einer Henne, die ihre eigenen Eier frisst». Wenn Frankreich Krieg führt, um universelle Werte zu verteidigen, warum gelten diese Werte dann nicht in Afrika?
Patrice Nganang, 1970 in Yaoundé geboren, ist Dichter und Schriftsteller, aber auch Literaturwissenschafter und Historiker. Als er in Yaoundé Geschichte studierte, brachte sein Professor eines Tages eine aktuelle Weltkarte mit in die Vorlesung, auf der der afrikanische Kontinent fehlte. Eine ideologische Weltkarte sei das, erklärte Professor Kum'a Ndumbe den verblüfften Studenten. So wie sein Professor, der später in Berlin lehrte, ging auch Patrice Nganang nach Deutschland mit dem Ziel, Afrika sichtbar zu machen. In Frankfurt am Main promovierte er mit einer Arbeit über den nigerianischen Nobelpreisträger Wole Soyinka und Bertolt Brecht. Heute lehrt er an der Stony Brook University in New York Literatur- und Kulturwissenschaften. Er schreibt unermüdlich Essays, Blogs und Romane, reist durch die Welt und erzählt von seinem Kamerun, den Intellektuellen dort, den Dichtern und Schriftstellern, die Yaoundé zu einer literarischen Hauptstadt machten.
«Zeit der Pflaumen» ist eine Hommage an all diejenigen, die auf der «ideologischen Weltkarte» nicht vorkommen, die ihren Platz in den Bibliotheken und Archiven noch erkämpfen müssen. Deshalb sind Poesie und poetische Sprache in diesem Roman nicht nur Ausdrucksform, sondern auch Thema: Durch sie kann man sich verständigen in Kontexten der Vielsprachigkeit wie der Sprachlosigkeit. Nganang spielt auf dem Instrument der Sprache: bald lakonisch brutal, wie in der Szene, in der Ngo Bikai von Kameruner Soldaten vergewaltigt wird, bald spielerisch-ironisch, wenn er schildert, wie Poukas ungebetene Gäste sich nach und nach sein Handtuch, seine Kleidung und schliesslich noch seinen Ausweis unter den Nagel reissen. Einem Franzosen legt der Autor die Sprache der linken Drittweltaktivisten in den Mund, dann wieder spricht er als Ich-Erzähler über die Kämpfer in der Wüste: «Ein grosses Loch im Herzen des Kontinents, in Sand gehüllt, der die Chronik ihrer Taten wegwischen würde, wenn ich nicht wäre, der Erzähler ihres Ruhms, der Schreiber ihrer Geschichte, der Poet ihrer Glückseligkeit.»

Poetische Sprache

Die poetische Sprache mit gelegentlichen Anklängen an Kameruner Ausdrucksweisen ist nicht leicht zu übersetzen. Gelegentlich bleibt der deutsche Text zu eng an der französischen Syntax und wirkt dadurch etwas holprig. Kleine Fehler («humeur» heisst nicht «Humor», sondern «schlechte Laune») fallen dagegen kaum ins Gewicht.
Und die Pflaumen? Der Titel könnte eine Anspielung auf die «Zeit der Kirschen» sein, das Lied der Pariser Kommune von 1870/71. Oder doch nur eine schlichte Zeitangabe, nämlich der Monat August, in dem die afrikanische Pflaume, die Safu, geerntet wird. Im August 1940 begann der Zweite Weltkrieg für die Kameruner. Zu den Siegesfeiern in Paris im August 1944 waren keine afrikanischen Soldaten eingeladen. Die Kälte dort sei für sie nicht zumutbar, soll de Gaulle gesagt haben.
Patrice Nganang: Zeit der Pflaumen. Aus dem Französischen von Gudrun und Otto Honke. Peter-Hammer-Verlag, Wuppertal 2014. 443 S., Fr. 37.90.
Die Rezension ist am 25.11.14 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.

Almut Seiler-Dietrich