Samstag, 20. April 2024

Rassismus und Antirassismus

 Die Tatsache, dass es die anspruchsvollen wissenschaftlichen Artikel der Zeitschrift "Aus Politik und Zeitgeschichte" jetzt online zu lesen gibt, veranlasst mich, jetzt zwei von diesen Aufsätzen aus dem Jahr 2020 vorzustellen, damit sich die Wahrscheinlichkeit, dass diese Zeitschrift auch im Netz gelesen wird, sich ein wenig vergrößert.

In dem Aufsatz von Naika Foroutan: "Rassismus in der postmigrantischen Gesellschaft" heißt es unter anderem:

"In der einschlägigen Rassismustheorie lässt sich die Funktionsweise von Rassismus im Wesentlichen in einem Dreischritt beschreiben:

In einem ersten Schritt werden Menschen beziehungsweise Menschengruppen aufgrund von Merkmalen, die je nach historischem Kontext unterschiedlich gewählt werden können, als homogene Gruppen dargestellt und eingeteilt.Zur Auflösung der Fußnote[12] Dabei muss das zugeschriebene Merkmal nicht zwingend auf die einzelnen Individuen zutreffen, es fungiert als "Bedeutungsträger".Zur Auflösung der Fußnote[13]

In einem zweiten Schritt – oftmals als Rassifizierung bezeichnetZur Auflösung der Fußnote[14] – werden diese Merkmale biologisiert, und ihren Träger*innen werden spezifische, meist negative Eigenschaften zugeschrieben.Zur Auflösung der Fußnote[15]

In einem dritten Schritt findet schließlich eine HierarchisierungZur Auflösung der Fußnote[16] der derart konstruierten Gruppen statt. Je nach Gesellschaftsformation ermöglichen solche Hierarchien zwar auch flexible Übergänge zwischen dem "Wir" und "den Anderen". Als anders gelesene Gruppen zu markieren und systematisch abzuwerten, kann indes nur gelingen, wenn gesellschaftliche Strukturen ermöglichen, die Verteilung von Handlungschancen sowie die Bewältigung von Konflikten in der Form solcher kollektiven Identitäten zu artikulieren und organisieren. [...]"

In Deutschland entstand nach dem Zweiten Weltkrieg (ab 1945), als der Holocaust allgemeiner bekannt wurde, nicht zuletzt durch Anne Franks Tagebuch ein Schuldgefühl gegenüber den Juden, an denen dieser Völkermord begangen worden war. Dagegen fühlten sich die meisten Deutschen am internationalen Kolonialismus nicht mitschuldig, denn die deutschen Kolonien, beispielsweise Deutsch-Südwestafrika, Deutsch-Ostafrika, Togo sowie Kamerun waren im Versailler Vertrag 1919 als Mandatsgebiete des Völkerbunds unter britische und französische Verwaltungshoheit gestellt worden. Mit denen hätten die Deutschen ja nichts mehr zu tun. 

Doch gerade, dass die Beziehungen zu den ehemaligen Kolonien nicht mehr bestanden, hatte dazu geführt. dass manche Bürger dieser Kolonien nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren konnten. 

Dazu heißt es in dem Aufsatz von Tiffany N. Florvil: Transnationale Perspektiven auf Schwarzen Antirassismus im Deutschland des 20. Jahrhunderts:

"Diese Schwarzen Deutschen engagierten sich als Aktivist*innen gegen Kolonialismus und Rassismus in Deutschland, da das Ende der deutschen Kolonialzeit keineswegs das Ende europäischer kolonialer Strukturen, Einstellungen und Politik bedeutete. So reichte Martin Dibobe, der erste Schwarze Zugführer im Berliner Nahverkehr, gemeinsam mit 18 anderen Männern aus früheren deutschen Kolonien, im Juni 1919 beim Reichskolonialministerium und beim Reichstag eine Petition ein. Darin verurteilten sie den Rassismus, traten dafür ein, Afrikaner*innen gleiche Rechte und gesetzliche Anerkennung zuteilwerden zu lassen und verlangten Teilhabe am neuen demokratischen System in Deutschland. Sie erhielten nie eine Antwort, allerdings handelte es sich um die erste kollektive Bemühung, in der Metropole offen dem Rassismus entgegenzutreten, der sich gegen die Rechte afrikanischer Menschen in Europa und den Kolonien richtete.Zur Auflösung der Fußnote[1] [...]

1930 organisierte der in Trinidad geborene George Padmore eine internationale Konferenz Schwarzer Arbeiter in Hamburg, bei der die Delegierten unter anderem universelle Arbeiterrechte, die volle Unabhängigkeit aller Kolonien und das Selbstbestimmungsrecht aller Nationen forderten. Ebenfalls in Hamburg gab er bis 1931 "The Negro Worker" heraus, das Sprachrohr des Internationalen Gewerkschaftskomitees für Schwarze Arbeiter. Unmittelbar nach ihrer Machtübernahme 1933 veranlassten die Nationalsozialist*innen Padmores Abschiebung. In seinen Werken setzte sich Padmore für die unterdrückten und ausgebeuteten Schichten ein. Als bekennender Kommunist war sein Antirassismus zugleich internationalistisch. Er thematisierte die mannigfaltigen Ausprägungen des Rassismus und bot Handlungsmöglichkeiten an, die auf ein Ende der weltweiten Klassenausbeutung sowie der rassistischen und kolonialen Unterdrückung zielten. Später sollte er sich offen als Anhänger und Unterstützer panafrikanischer Initiativen bekennen. So gründete er zusammen mit anderen 1937 mit dem International African Service Bureau ein Netzwerk, mit dem die Korrespondenz zwischen afrikanischen und karibischen Gewerkschaftler*innen und Intellektuellen koordiniert wurde.Zur Auflösung der Fußnote[7]

Diese Entwicklungen der Zwischenkriegszeit deuten darauf hin, dass der antirassistische Aktivismus eher auf intellektuellem und kulturellem Wege zustande kam als durch die unmittelbare politische Konfrontation. In der NS-Zeit blieben diese transnationalen Verbindungen – wenn auch in anderer Form – erhalten. So erschienen in afroamerikanischen Zeitungen wie dem "Chicago Defender" oder dem "Pittsburgh Courier" Artikel zur Entwicklung in Deutschland, zum Rassismus der Nationalsozialist*innen, zum Leben unter dem NS-Regime sowie später zu den Erfahrungen afroamerikanischer Soldaten im Nachkriegsdeutschland.Zur Auflösung der Fußnote[8] Ihre durch rassistische Zuschreibungen geprägten Erlebnisse im besetzten Deutschland lassen auch die Widersprüche der Demokratie und der seit 1949 im Grundgesetz verankerten "Gleichheit vor dem Gesetz" deutlich hervortreten. [...]

Die Präsenz US-amerikanischer Soldaten in Deutschland ermöglichte einen produktiven Austausch zwischen ihnen und der westdeutschen Bevölkerung. Afroamerikanische Soldaten warben für die Etablierung einer funktionierenden Demokratie und von Freiheitsrechten, während sie selbst immer noch in einer Armee dienten, die rassistischen gesetzlichen Vorgaben unterlag und weder ihr Menschsein anerkannte noch ihren Beitrag zur Kriegsanstrengung honorierte. Ironischerweise erlebten sie im Westdeutschland der Nachkriegszeit ein Maß an Freiheit, wie sie es zuvor nie gekannt hatten.

Deutsche in Ost und West schenkten dagegen dem Rassismus außerhalb ihrer Grenzen vielfach mehr Aufmerksamkeit als dem im eigenen Land. So berichteten deutsche Zeitungen über US-Bürgerrechtsthemen, etwa 1957, als drei Jahre, nachdem der Oberste Gerichtshof in den USA die Rassentrennung an Schulen für verfassungswidrig erklärte hatte, neun afroamerikanischen Schüler*innen von gewalttätigen Demonstrant*innen mit Unterstützung der Nationalgarde der Besuch der Little Rock Central High School verwehrt wurde.Zur Auflösung der Fußnote[9] Das wachsende Interesse an diesen Themen war auch bei den viel beachteten Besuchen prominenter Bürgerrechtler wie Martin Luther King Jr. und Ralph Abernathy in Frankfurt am Main sowie in Ost- und Westberlin 1964 erkennbar. Dieser Austausch brachte auch Deutsche dazu, Schritte gegen Rassismus einzufordern, während sich die westdeutsche Politik indes stark auf die Eindämmung des Kommunismus in all seinen Erscheinungsformen konzentrierte. [...]

In den 1960er Jahren waren viele westliche Führungspersönlichkeiten zudem überzeugt, die Black-Power-Bewegung bedrohe den weißen Status quo.Zur Auflösung der Fußnote[10] Anders sahen dies radikale Student*innen des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS), die sich 1967 mit der Black-Power-Bewegung und anderen linken Schwarzen Bewegungen solidarisch erklärten.Zur Auflösung der Fußnote[11] [...]  Deutsche Studierende und afroamerikanische Soldaten planten gemeinsam Versammlungen, Teach-Ins und Proteste, darüber hinaus gaben sie die Untergrundzeitung "Voice of the Lumpen" heraus. [...] Antirassistische Ideologie und internationalistische Perspektiven bestärkten die Schwarze deutsche Bewegung in ihrem Vorgehen, zu dem Workshops, Proteste und Vorträge in verschiedenen deutschen Städten gehörten. In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren kritisierten Schwarze Deutsche deutlich die Renaissance des ethnischen Nationalismus und den Neofaschismus in Deutschland und Europa. [...] Die deutsche Black-Lives-Matter-Bewegung (BLM) nahm ihren Anfang 2016. Mit ihr ist ein Raum für neue kritische Methoden entstanden, die den sich überschneidenden Formen der Unterdrückung Rechnung tragen, damit die Lebensbedingungen für Schwarze Deutsche verbessert werden können. In ihren Aufrufen zum Handeln ähnelt die deutsche BLM-Bewegung jenen in Großbritannien, Frankreich und den USA. In Deutschland manifestiert sie sich insbesondere in Kampagnen gegen staatliche Gewalt und für ein Ende der Rassen- und Geschlechterdiskriminierung, wobei sie die Aufmerksamkeit auch auf die verbreitete Polizeigewalt lenkt. [...]"

(Walter Böhme, Webmaster der "Nachbarschaft")

Donnerstag, 18. Januar 2024

Rinaudo und Aufforstung in Afrika

"[...]Rinaudo entwickelte in den 1980er und 1990er Jahren die Wiederaufforstungstechnik „Farmer Managed Natural Regeneration“ (FMNR), bei der aus den unter dem Wüstensand verborgenen Wurzelsystemen Bäume herangezogen werden. So wurden erfolgreich Teile der Sahelzone wieder begrünt. Er und sein Team konnten mit dieser Methode über 200 Millionen neue Bäume in der Sahelzone heranziehen, und andere Teams zogen weitere 600 Millionen mit seiner Technik heran. Insgesamt gab es bis 2019 20 Millionen Hektar mit einer durchschnittlichen Baumdichte von etwa 40 Bäumen pro Hektar.[1][2]

2018 wurde ihm der Right Livelihood Award – auch als Alternativer Nobelpreis bekannt – zusammen mit Yacouba Sawadogo verliehen.[...]" (Wikipedia)


Mehr zum Thema auf diesem Blog seit 2012


 

Donnerstag, 4. Januar 2024

Afrika ist so jung wie kein anderer Kontinent der Welt

 "[...] Eine ganze Welle an Militärcoups machte 2023 deutlich, dass die Demokratie auf dem Kontinent in die Defensive geraten ist. Einmal mehr wird deklariert, die Herrschaft des Volkes sei ein „westliches“, für Afrika ungeeignetes Konzept – als ob die Bewohner:innen des Kontinents ihrer Natur nach lieber gegängelt und gepiesackt würden. Dabei bringt jede ernst zu nehmende Umfrage zum Vorschein, dass eine überwältigende Mehrheit der Menschen in Afrika die Demokratie in ihrer Heimat vorzieht. [...]

In einem Vierteljahrhundert wird jeder vierte Mensch in Afrika leben. Der Kontinent ist so jung wie kein anderer der Welt: Seine Bewohner:innen sind durchschnittlich 19 Jahre alt, im Unterschied zu fast 45 Jahren in Deutschland. Jung, zahlreich, gut ausgebildet und virtuell mit der gesamten Welt vernetzt sind sie eine Macht, mit der künftig zu rechnen ist. Der Einfluss des Kontinents auf die Geschicke der Menschheit wird in den kommenden Jahrzehnten rapide zunehmen: Dafür werden auch Afrikas wachsender Markt und sein unverhältnismäßig großer Anteil an den Quellen erneuerbarer Energien sorgen.  [...]

Johannes Dieterich, Afrikakorrespondent der Frankfurter Rundschau, über seine Erfahrungen mit Afrika, FR 2.1.2024