Eine «Dekolonisierung des Denkens» forderte Ngugi wa Thiong’o 1986. Nun liegt der Text auf Deutsch vor – aber ist er noch aktuell?
Die Denker des subsaharischen Afrika
kämpfen seit Jahrzehnten gegen dieVerinnerlichung des intellektuellen Rassismus und Kolonialismus. Es gelte, sich
endlich vom fortdauernden «Fluch des
Ham» zu befreien, forderte der kongolesische Literaturwissenschafter Alain Mabanckou bei seiner Antrittsrede am Collège de France im März 2016.
Im Widerstand gegen die kulturelle
Vereinnahmung während der Kolonialzeit besang die Négritude-Dichtung die
Schönheit der afrikanischen Kulturen.
Ihr Wortführer Léopold Sédar Senghor
forderte «afrikanische Anwesenheit» (daher auch der Name des 1947 gegründeten Pariser Verlagshauses Présence
Africaine). «Lasst uns ‹hier!› rufen, wenn
die Welt wiedergeboren wird», schrieb
Senghor im «Gebet an die Masken», als
die behauptete moralische Überlegenheit der Europäer gerade auf den
Schlachtfeldern verblutet und in den Lagern ermordet worden war.
Aber nicht alle afrikanischen Literaturschaffenden teilten die Ideen der Négritude. «Ein Tiger verkündet nicht seine
Tigritude – er springt», sagte Wole
Soyinka 1962 auf einer Konferenz in
Kampala, der Hauptstadt des gerade un
abhängig gewordenen Uganda.
Sprache färbt das Denken
Zu den Unabhängigkeitsfeiern war auch
das Theaterstück «The Black Hermit»
von James Ngugi aufgeführt worden,
einem kenyanischen Studenten der Makerere-Universität. Er sah die Hauptprobleme in Analphabetentum, Stammeswesen und Religion. Ngugiwa Thiong’o,
wie er sich seit 1970 entsprechend der
Familientradition nennt, schrieb vier
Romane auf Englisch, bis er erkannte,
dass die Sprache Teil des kolonialen
Denkens ist – nicht nur, weil sie ein europäisches oder europäisch gebildetes
Publikum anspricht, sondern weil sie
zwangsläufig die Inhalte verfremdet.
Auch wenn Autoren afrikanische Sprachbilder, Sprichwörter und Rhythmen benutzten, wie etwa Chinua Achebe im
Englischen und Ahmadou Kourouma im
Französischen, führe das wohl zu einer
Bereicherung dieser Sprachen, nicht
aber zur Afrikanisierung des Denkens.
Die Sprachendebatte tobte heftig in
den siebziger und achtziger Jahren des
20. Jahrhunderts. 1986 wurde der erste –
und bisher einzige – Literaturnobelpreis
an einen schwarzafrikanischen Autor
vergeben, den Nigerianer Wole Soyinka.
Er hätte ihn nie bekommen, wenn er in
seiner Muttersprache Yoruba geschrieben hätte, sagte man in Afrika; mit seinem Englisch habe er sich den Europäern angebiedert.
Im selben Jahr er
schien «Decolonizing the Mind» von
Ngugi wa Thiong’o, das jetzt endlich ins
Deutsche übersetzt wurde. Dabei entspricht der Untertitel «Essays über afri
kanische Sprachen in der Literatur» nicht
dem Original: «The Politics of Language
in African Literature». Es geht jedoch im
Buch weniger um afrikanische als vor
allem um europäische Sprachen in Erziehung, Kultur und Literatur Afrikas.
Ngugis Schrift ist eine harte Auseinandersetzung mit dem postkolonialen
Imperialismus, in dem die Sprache weiterhin als Herrschaftsinstrument fungiert. Dass auf «Schwert und Gewehr
kugel (. . .) Kreide und Schultafel» folgten, ist eine Beschreibung der Kolonialisierung, die ja nicht nur physische,
sondern auch geistige Inbesitznahme
war. Die afrikanischen Sprachen wurden
zu «Buschsprachen» degradiert, die
höchstens als Studienobjekte der Ethnologen Bestand hatten.
Die Machthaber spielen mit
Warum aber haben die unabhängigen
afrikanischen Nationen dann nicht die
Kreide zum Schreiben ihrer Landessprachen eingesetzt? Warum sind die afrikanischen Schriftsteller hier nicht voran
gegangen? Ngugi wa Thiong’o sieht in
seinem Essay die Hauptschuld in den
neokolonialen Staatsführungen. Das ist
sicher auch heute noch richtig,wenn man
bedenkt, dass sie Schulbücher lieber als
Geschenke der ehemaligen Kolonialherren annehmen, als sich um einheimische
Produktion zu kümmern. Dabei gibt es
ja eine umfangreiche Literatur in afrikanischen Sprachen, insbesondere in Swahili, der Lingua franca Ostafrikas; aber
sie wird kaum übersetzt und deshalb
weltweit nicht wahrgenommen.
Dass Autoren eine grössere Verbreitung ihrer Werke durch die Verwendung
europäischer Sprachen anstreben, kann
man ihnen nicht verübeln. Und wer in
Afrika lesen kann, liest meist auch Eng
lisch bzw.Französisch oder Portugiesisch.
Aus heutiger Sicht ist weniger die Verwendung dieser Sprachen der Skandal
als vielmehr die Tatsache, dass es kaum
Verlagshäuser in Afrika gibt und dass
Transport und Zölle aus Übersee importierte Bücher unerschwinglich machen.
Hier bietet sich das Internet zur Überwindung räumlicher und sprachlicher
Grenzen an; dabei ist interessant zu beobachten, wie locker afrikanische Blogger zwischen den Sprachen hin und her
wechseln und wie kreativ sie mit Orthographie und Grammatik umgehen.
«Dekolonisierung des Denkens» ist
zweifellos ein historischer Grundlagen
text,wird aber der heutigen Wirklichkeit
nicht mehr gerecht. Von einer «Zerstörung der afrikanischen Kulturen» durch
die Bevorzugung europäischer Sprachen
kann so allgemein nicht die Rede sein,
allenfalls davon, dass auch heutzutage
gesellschaftlicher Aufstieg und inter
nationales Ansehen mit der Verwendung
europäischer Sprachen einhergehen.
Aus heutiger Sicht
Die Herausgeberinnen haben fünf Texte
international bekannter Autorinnen und
Autoren angehängt, die den Essay kommentieren. Der interessanteste Beitrag
stammt von Ngugis Sohn Mukoma wa
Ngugi. Er knüpft an die Familiengeschichte an, zeigt aber auch realistische
Optionen zum Umgang mit dem Problem
auf, etwa mit dem Hinweis auf das Online
Magazin «Jalada», das Schreiben und
Übersetzen in afrikanischen Sprachen in
einer internationalen Community betreibt. Auch Boubacar Boris Diop aus
Senegal kümmert sich um Übersetzungen
in afrikanische Sprachen. Der Kameruner
Achille Mbembe beschreibt die Gebrochenheit der postkolonialen Welt. Petina
Gappah aus Simbabwe schildert die Praxis des Schreibens in Englisch und Shona.
Ganz anders sieht es in Südafrika aus:
Sonwabiso Ngcowa, 1984 geboren, erinnert sich nicht mehr an die Zeiten, als
«Bantu- Erziehung» ein Mittel war, die
farbige Bevölkerung von der Teilhabe an
der modernen Welt auszuschließen. Er
sieht in der Dominanz des Englischen
den Fortbestand weißer Vorherrschaft
und fordert eine «Sprachrevolution», um
das Sterben der südafrikanischen Sprachen zu verhindern.
Erstaunlicherweise ist nirgendwo die
Rede vom Vorteil der Mehrsprachigkeit,
der in der Befähigung zum Agieren in der
globalisierten Welt besteht. Die behauptete Glottophagie findet, wenn überhaupt, auf politischer Ebene statt, etwa
wenn,wie unlängst in Kamerun, ein Konflikt zwischen «Anglofonen» und «Frankofonen» aufflammt: Tribalismus als
koloniale Restmasse. Die afrikanischen
Sprachen sind höchst lebendig und inzwischen auch weitgehend verschriftlicht. Es
ist in der Tat Zeit für die «Dekolonisierung des Denkens» und die Übernahme
kultureller Eigenverantwortung in den
afrikanischen Gesellschaften.
Ngugi wa Thiong’o: Dekolonisierung des Denkens. Essays über afrikanische Sprachen in der
Literatur. Aus dem Englischen von Thomas
Brückner. Unrast-Verlag, Münster 2017.
272 S.
ALMUT SEILER-DIETRICH
Mittwoch, 4. Juli 2018
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