In der Tat handelt es sich bei den "Holzfeuermärchen", die Hilaire Mbakop gesammelt hat, nicht um Märchen von Hexen, Prinzen oder Dummlingen, sondern um Volkserzählungen, die oft von Tieren handeln und insofern Fabeln ähneln, und Erzählungen, die in einer völlig anderen Kultur beheimatet sind als die europäischen Märchen (die wir oft als typisch deutsch missverstehen).
Während das Märchen "Aschenputtel" in der Hochzeit mit dem Prinzen sein glückliches Ende findet, findet die Heldin in "Der Häuptling und seine Frauen" ihr Glück darin, dass der Häuptling seine anderen Frauen verstößt.
An die Stelle des bösen Zauberers kann ein "Mann im Anzug" treten und statt in einer Kutsche wird in einem "altersschwachen Taxi" gefahren. Und das Happy End von "Der Schwache und der Starke" besteht darin, dass der Schwache mit seiner Mutter aus seinem Heimatdorf flieht. (Warum das ein Happy End ist, kann man in "Holzfeuermärchen" nachlesen.)
So fremdartig, wie es auf den ersten Blick scheint, sind diese Märchen freilich nicht. Die Schildkröte, die in keinem von Grimms Märchen zu finden ist, spielt die gleiche Rolle wie der Igel im Märchen von "Hase und Igel". Der Hase freilich ist in diesen Märchen meist so listig, wie in den europäischen Fabeln der Fuchs. Und der Panter spielt eine ähnliche Rolle wie in europäischen Märchen der böse Wolf.
Was ist für mich der besondere Reiz dieser Sammlung?
Die Märchen wurden im 21. Jahrhundert gesammelt.Nur ein relativ kleiner Prozentsatz der Menschen, die Medúmbà sprechen, die Sprache, in der - bis auf vier - alle Märchen dieser Sammlung erzählt worden sind, beherrscht die Schrift von Medúmbà. Wir haben es also mit Märchen zu tun, die erst zwei Jahrhunderte nach Grimms Märchen verschriftlicht worden sind. Es ist reizvoll, sich zu überlegen, welche Elemente der Märchen erst in neuster Zeit hinzugekommen sind (bei dem Taxi, den "quietschend Reifen", dem "Mann mit dem Anzug" fällt es relativ leicht) und ob auch die Märchen erst recht jung sind. Aber ich frage mich auch, wie weit die anscheinend recht alten Tiermärchen zu den aktuellen Erfahrungen der heutigen Kameruner passen.
So viel ist sicher: Fast alle Märchen sind aus der Sicht von Schwachen erzählt, die sich erhoffen, einmal stärker sein zu können als die, die gegenwärtig mehr Erfolg in der Gesellschaft haben.
Nicht zufällig spielt die Schildkröte in diesen Märchen eine so wichtige Rolle: ein Tier, das langsam ist (also im Wettrennen um Erfolg weniger chancenreich), aber durch seinen Panzer vor Angriffen und vor Verletzungen geschützt ist.
Und was will uns wohl sagen, dass in einem Märchen der Elefant ein Gewehr bekommt, um die Schildkröte zu erschießen, am Schluss aber die Schildkröte das Gewehr in Besitz nimmt?
Diese Sammlung eignet sich also zum Vergleich mit Grimms Märchen, um damit zu einem vertieften Verständnis der eigenen Märchentradition zu verhelfen. Leser, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, sollten beachten, dass die Sprachform gelegentlich vom aktuell gebräuchlichen Deutsch abweicht. Für Leser mit der Muttersprache Deutsch entsteht dadurch ein eigentümlicher Reiz.
Der Verdienst, dass Hilaire Mbakop noch im 21. Jahrhundert Märchen gesammelt hat, wird noch deutlicher, wenn man bei den Märchenforschern Turay und Möhlig schon 1989 liest: "In den letzten Jahrzehnten ist die orale Volksliteratur fast überall in Afrika einen stillen Tod gestorben" (A. Taray und W.J.G. Möhlig: Temne Stories, Köln 1989, S.11).
Walter Böhme
Hilaire Mbakop: Holzfeuermärchen, Re Di Roma-Verlag 2010, ISBN 978-3-86870-261-3
Für Lehrer ein Artikel über die pädagogische Funktion von Märchen allgemein.
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