Afrikanische Geschichte lebt nicht in Schlössern und Kathedralen, sondern in Erzählungen, die von Generation zu Generation weitergereicht werden. Dafür ist in Westafrika der Griot zuständig, der die Geheimnisse der Herrscher kennt, die Verwicklungen von Genealogien durchschaut und das Alltagsleben begleitet. Mündliche Überlieferung kann dort haltbarer sein als zu Papier gebrachte Dokumente, die es natürlich auch gibt – etwa die Bibliothek von Timbuktu, die gerade der Zerstörungswut der Islamisten ausgeliefert ist, und die des Sultans Njoya von Bamum in Westkamerun, die derzeit von Kakerlaken aufgefressen wird, wie Patrice Nganang berichtet, der als moderner Griot mündliches Erzählen in Romanform giesst. Mäzen und Historiker Sultan Njoya war von der Überlegenheit der Schrift überzeugt. Er entwickelte ein Alphabet und verfasste ein Werk über sein Reich: das 1921 vollendete «Saa'ngam». Während seiner Herrschaft von 1894 bis 1933 war er mit drei Kolonialmächten konfrontiert, deren erste, die deutsche, ihm am meisten imponierte. 1908 schenkte er Kaiser Wilhelm II. seinen Thron, ein Kunstwerk, das heute noch im Ethnologischen Museum in Berlin zu sehen ist. Mit den Briten und Franzosen kam er weniger gut aus: Letztere verbannten ihn 1931 aus seiner Heimat. Bis zu seinem Tod 1933 lebte er in Yaoundé in einer fürstlichen Residenz namens Mont Plaisant – so auch der Originaltitel des Romans. Sein Gastgeber dort ist Charles Atangana, der ihm die Tochter seines Schwagers zum Geschenk macht. Sie, die damals neunjährige Sara, wird zum stummen «Schatten des Sultans». Sie findet ihre Sprache erst wieder, als die richtige Zuhörerin auftaucht. Das ist Bertha, die Ich-Erzählerin des Romans, die nach Yaoundé gereist ist, wo sie Material für eine wissenschaftliche Arbeit über die Wurzeln des kamerunischen Nationalismus sucht. In Nsimeyong, einem Vorort von Yaoundé, will sie sich den Palast ansehen, aber wo einst Mont Plaisant stand, findet sie nur noch zwei Ziegelsteine vor. «Ich weiss, was Sie suchen», sagt ein junger Mann. Plumpe Anmache, um Kontakt zu einer in den USA lebenden Frau zu bekommen? Zuerst scheint es so, aber dann führt Aruna die skeptische Bertha zu einer alten Frau – Sara, die jetzt bereit ist, ihre Geschichte zu erzählen. In Saras Erinnerung ersteht die höfische Welt des Sultans wieder: seine unzähligen Frauen, seine Tochter, die politischen Gefährten – vor allem Charles Atangana –, die Bediensteten und die Künstler, die er in seinen Werkstätten ansiedelte und für seinen Palast arbeiten liess. Natürlich herrschen in Mont Plaisant, wie schon im Palast von Fumban, diktatorische Verhältnisse, Aufmüpfige werden mit der Peitsche zur Räson gebracht, Intrigen enden oft tödlich. – Sara berichtet nicht gradlinig: Ihre Erinnerung mäandert durch Zeit und Raum, Verdoppelungen komplizieren die Geschichte. Bertha ist auch der Name der Sklavin, die sich damals um die kleine Sara kümmerte. Sie verkleidete das Mädchen als Knaben und nannte sie Nebu wie ihren Sohn, der Bildhauer in Mont Plaisant war und sich mit einer nach dem Bild seiner Geliebten geschaffenen Statue in den Tod stürzte. Sein Schicksal nimmt einen breiten Raum in dem Roman ein wie auch die Geschichte von Saras Vater Joseph Ngono, der allerlei Unangenehmes in Berlin erlebt. So spielt auch ein Teil der Erzählung in Deutschland. Geschichtlich greift der Roman bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück, als Njoya noch in Bamum residierte, als Kamerun noch gar nicht existierte und die Stadt Cameroon City das heutige Douala bezeichnete. Historische Einzelheiten stammen aus den Bergen von Akten, die von Kolonialoffizieren, Ethnografen und Missionaren angefertigt wurden; sie ergänzen die mündliche Überlieferung, der die aus den USA angereiste Wissenschafterin Bertha zunächst nichts abgewinnen kann: «Schluss mit den Archiven des Geschwätzes!», fordert sie und erliegt dann doch dem Zauber von Saras Erzählung und dem Charme der alten Frau, die es versteht, ihre Zuhörerin durch kleine Gesten an sich zu binden, etwa durch gegenseitiges Flechten der Haare. Aruna und seine Freunde sorgen dafür, dass Bertha auch das heutige Kamerun der jungen Menschen versteht.
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Patrice Nganang, 1970 in Yaoundé geboren, machte seinen Masters-Abschluss an der Universität Yaoundé und kam 1994 mit einem Stipendium des DAAD nach Frankfurt am Main, wo er mit einer Arbeit über den nigerianischen Nobelpreisträger Wole Soyinka und Bertolt Brecht promovierte. Heute lehrt er an der Stony Brook University in New York Literatur- und Kulturwissenschaften. Er schreibt Essays, Literaturkritiken, Gedichte und Romane. «Hundezeiten» (Peter-Hammer-Verlag, 2003) wurde mit dem Grand Prix Littéraire de l'Afrique noire ausgezeichnet. Für seinen neuen Roman hat Nganang acht Jahre lang in Archiven auf drei Kontinenten geforscht und Menschen in seiner Heimat befragt. Das Resultat ist ein spannendes Buch, aber auch ein Plädoyer für eine neue Art von Geschichtsschreibung. Der Zeitschrift «Jeune Afrique» sagte der Autor: «Geschichte ist zuallererst das von Menschen Erlebte. Die offizielle Kameruner Geschichte beginnt mit dem Unabhängigkeitskampf in den 1950er Jahren. Das Land leidet unter einer historischen Stagnation, dagegen schreibe ich an. Natürlich beginnt die intellektuelle Geschichte sehr viel früher. Njoya hätte mein Grossvater sein können, ein Teil meiner heutigen Intelligenz kommt von ihm, deshalb diese Würdigung.» Sultan Njoya hätte sich über diese Würdigung gefreut, der man viele Leser – gerade auch in Kamerun – wünscht.
Patrice Nganang: Der Schatten des Sultans. Aus dem Französischen von Gudrun und Otto Honke. Peter-Hammer-Verlag. 493 S., Fr. 36.90.
Die Rezension ist am 22.1.13. in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.
Almut Seiler-Dietrich