Die Tatsache, dass es die anspruchsvollen wissenschaftlichen Artikel der Zeitschrift "Aus Politik und Zeitgeschichte" jetzt online zu lesen gibt, veranlasst mich, jetzt zwei von diesen Aufsätzen aus dem Jahr 2020 vorzustellen, damit sich die Wahrscheinlichkeit, dass diese Zeitschrift auch im Netz gelesen wird, sich ein wenig vergrößert.
In dem Aufsatz von Naika Foroutan: "Rassismus in der postmigrantischen Gesellschaft" heißt es unter anderem:
"In der einschlägigen Rassismustheorie lässt sich die Funktionsweise von Rassismus im Wesentlichen in einem Dreischritt beschreiben:
In einem ersten Schritt werden Menschen beziehungsweise Menschengruppen aufgrund von Merkmalen, die je nach historischem Kontext unterschiedlich gewählt werden können, als homogene Gruppen dargestellt und eingeteilt. Dabei muss das zugeschriebene Merkmal nicht zwingend auf die einzelnen Individuen zutreffen, es fungiert als "Bedeutungsträger". [12] [13]
In einem zweiten Schritt – oftmals als Rassifizierung bezeichnet – werden diese Merkmale biologisiert, und ihren Träger*innen werden spezifische, meist negative Eigenschaften zugeschrieben. [14] [15]
In einem dritten Schritt findet schließlich eine Hierarchisierung der derart konstruierten Gruppen statt. Je nach Gesellschaftsformation ermöglichen solche Hierarchien zwar auch flexible Übergänge zwischen dem "Wir" und "den Anderen". Als anders gelesene Gruppen zu markieren und systematisch abzuwerten, kann indes nur gelingen, wenn gesellschaftliche Strukturen ermöglichen, die Verteilung von Handlungschancen sowie die Bewältigung von Konflikten in der Form solcher kollektiven Identitäten zu artikulieren und organisieren. [...]" [16]
In Deutschland entstand nach dem Zweiten Weltkrieg (ab 1945), als der Holocaust allgemeiner bekannt wurde, nicht zuletzt durch Anne Franks Tagebuch ein Schuldgefühl gegenüber den Juden, an denen dieser Völkermord begangen worden war. Dagegen fühlten sich die meisten Deutschen am internationalen Kolonialismus nicht mitschuldig, denn die deutschen Kolonien, beispielsweise Deutsch-Südwestafrika, Deutsch-Ostafrika, Togo sowie Kamerun waren im Versailler Vertrag 1919 als Mandatsgebiete des Völkerbunds unter britische und französische Verwaltungshoheit gestellt worden. Mit denen hätten die Deutschen ja nichts mehr zu tun.
Doch gerade, dass die Beziehungen zu den ehemaligen Kolonien nicht mehr bestanden, hatte dazu geführt. dass manche Bürger dieser Kolonien nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren konnten.
Dazu heißt es in dem Aufsatz von Tiffany N. Florvil: Transnationale Perspektiven auf Schwarzen Antirassismus im Deutschland des 20. Jahrhunderts:
"Diese Schwarzen Deutschen engagierten sich als Aktivist*innen gegen Kolonialismus und Rassismus in Deutschland, da das Ende der deutschen Kolonialzeit keineswegs das Ende europäischer kolonialer Strukturen, Einstellungen und Politik bedeutete. So reichte Martin Dibobe, der erste Schwarze Zugführer im Berliner Nahverkehr, gemeinsam mit 18 anderen Männern aus früheren deutschen Kolonien, im Juni 1919 beim Reichskolonialministerium und beim Reichstag eine Petition ein. Darin verurteilten sie den Rassismus, traten dafür ein, Afrikaner*innen gleiche Rechte und gesetzliche Anerkennung zuteilwerden zu lassen und verlangten Teilhabe am neuen demokratischen System in Deutschland. Sie erhielten nie eine Antwort, allerdings handelte es sich um die erste kollektive Bemühung, in der Metropole offen dem Rassismus entgegenzutreten, der sich gegen die Rechte afrikanischer Menschen in Europa und den Kolonien richtete. [...] [1]
1930 organisierte der in Trinidad geborene George Padmore eine internationale Konferenz Schwarzer Arbeiter in Hamburg, bei der die Delegierten unter anderem universelle Arbeiterrechte, die volle Unabhängigkeit aller Kolonien und das Selbstbestimmungsrecht aller Nationen forderten. Ebenfalls in Hamburg gab er bis 1931 "The Negro Worker" heraus, das Sprachrohr des Internationalen Gewerkschaftskomitees für Schwarze Arbeiter. Unmittelbar nach ihrer Machtübernahme 1933 veranlassten die Nationalsozialist*innen Padmores Abschiebung. In seinen Werken setzte sich Padmore für die unterdrückten und ausgebeuteten Schichten ein. Als bekennender Kommunist war sein Antirassismus zugleich internationalistisch. Er thematisierte die mannigfaltigen Ausprägungen des Rassismus und bot Handlungsmöglichkeiten an, die auf ein Ende der weltweiten Klassenausbeutung sowie der rassistischen und kolonialen Unterdrückung zielten. Später sollte er sich offen als Anhänger und Unterstützer panafrikanischer Initiativen bekennen. So gründete er zusammen mit anderen 1937 mit dem International African Service Bureau ein Netzwerk, mit dem die Korrespondenz zwischen afrikanischen und karibischen Gewerkschaftler*innen und Intellektuellen koordiniert wurde. [7]
Diese Entwicklungen der Zwischenkriegszeit deuten darauf hin, dass der antirassistische Aktivismus eher auf intellektuellem und kulturellem Wege zustande kam als durch die unmittelbare politische Konfrontation. In der NS-Zeit blieben diese transnationalen Verbindungen – wenn auch in anderer Form – erhalten. So erschienen in afroamerikanischen Zeitungen wie dem "Chicago Defender" oder dem "Pittsburgh Courier" Artikel zur Entwicklung in Deutschland, zum Rassismus der Nationalsozialist*innen, zum Leben unter dem NS-Regime sowie später zu den Erfahrungen afroamerikanischer Soldaten im Nachkriegsdeutschland. Ihre durch rassistische Zuschreibungen geprägten Erlebnisse im besetzten Deutschland lassen auch die Widersprüche der Demokratie und der seit 1949 im [8]Grundgesetz verankerten "Gleichheit vor dem Gesetz" deutlich hervortreten. [...]
Die Präsenz US-amerikanischer Soldaten in Deutschland ermöglichte einen produktiven Austausch zwischen ihnen und der westdeutschen Bevölkerung. Afroamerikanische Soldaten warben für die Etablierung einer funktionierenden Demokratie und von Freiheitsrechten, während sie selbst immer noch in einer Armee dienten, die rassistischen gesetzlichen Vorgaben unterlag und weder ihr Menschsein anerkannte noch ihren Beitrag zur Kriegsanstrengung honorierte. Ironischerweise erlebten sie im Westdeutschland der Nachkriegszeit ein Maß an Freiheit, wie sie es zuvor nie gekannt hatten.
Deutsche in Ost und West schenkten dagegen dem Rassismus außerhalb ihrer Grenzen vielfach mehr Aufmerksamkeit als dem im eigenen Land. So berichteten deutsche Zeitungen über US-Bürgerrechtsthemen, etwa 1957, als drei Jahre, nachdem der Oberste Gerichtshof in den USA die Rassentrennung an Schulen für verfassungswidrig erklärte hatte, neun afroamerikanischen Schüler*innen von gewalttätigen Demonstrant*innen mit Unterstützung der Nationalgarde der Besuch der Little Rock Central High School verwehrt wurde. Das wachsende Interesse an diesen Themen war auch bei den viel beachteten Besuchen prominenter Bürgerrechtler wie [9]Martin Luther King Jr. und Ralph Abernathy in Frankfurt am Main sowie in Ost- und Westberlin 1964 erkennbar. Dieser Austausch brachte auch Deutsche dazu, Schritte gegen Rassismus einzufordern, während sich die westdeutsche Politik indes stark auf die Eindämmung des Kommunismus in all seinen Erscheinungsformen konzentrierte. [...]
In den 1960er Jahren waren viele westliche Führungspersönlichkeiten zudem überzeugt, die Black-Power-Bewegung bedrohe den weißen Status quo. [10] Anders sahen dies radikale Student*innen des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS), die sich 1967 mit der Black-Power-Bewegung und anderen linken Schwarzen Bewegungen solidarisch erklärten. [11] [...] Deutsche Studierende und afroamerikanische Soldaten planten gemeinsam Versammlungen, Teach-Ins und Proteste, darüber hinaus gaben sie die Untergrundzeitung "Voice of the Lumpen" heraus. [...] Antirassistische Ideologie und internationalistische Perspektiven bestärkten die Schwarze deutsche Bewegung in ihrem Vorgehen, zu dem Workshops, Proteste und Vorträge in verschiedenen deutschen Städten gehörten. In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren kritisierten Schwarze Deutsche deutlich die Renaissance des ethnischen Nationalismus und den Neofaschismus in Deutschland und Europa. [...] Die deutsche Black-Lives-Matter-Bewegung (BLM) nahm ihren Anfang 2016. Mit ihr ist ein Raum für neue kritische Methoden entstanden, die den sich überschneidenden Formen der Unterdrückung Rechnung tragen, damit die Lebensbedingungen für Schwarze Deutsche verbessert werden können. In ihren Aufrufen zum Handeln ähnelt die deutsche BLM-Bewegung jenen in Großbritannien, Frankreich und den USA. In Deutschland manifestiert sie sich insbesondere in Kampagnen gegen staatliche Gewalt und für ein Ende der Rassen- und Geschlechterdiskriminierung, wobei sie die Aufmerksamkeit auch auf die verbreitete Polizeigewalt lenkt. [...]"
(Walter Böhme, Webmaster der "Nachbarschaft")
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