Montag, 11. April 2016

Deutschunterricht durch Ehrenamtliche

Wie viele neue Wörter kann man pro Tag verdauen? 

Berlin, Flüchtlingsnotunterkunft Rathaus Wilmersdorf, 10 Uhr vormittags. Vier Kinder sind schon da, die ehrenamtlichen Sprachhelfer Rita und Peter beginnen ihre Vormittagsklasse: Alle fassen sich an den Händen und krakeelen im Chor: »Gu-ten Mor-gen, sa-gen al-le Kin-der, gro-ße Kin-der, klei-ne Kin-der, di-cke Kin-der, dün-ne Kinder, al-le Kin-der sa-gen gu-ten Mor-gen.« Maza sagt erst mal noch nichts. Sie hat kurze dunkle Haare und ist fünf oder sechs Jahre alt. Nach ihrem Alter fragen kann man sie nicht, weil ihre Deutschkenntnisse dazu noch nicht ausreichen. Die einzige Frage, die sie beantwortet, ist: »Wie heißt du?« »Maza.«
Dann beginnt sie, die Wörter von der Tafel abzumalen, G U T E N M O R G E N, von rechts nach links, als seien es Buchstaben des arabischen Alphabets. Mazas Mitschüler, drei aufgeweckte syrische Jungs namens Ali, Fahim und Mohammed, sind schon ein bisschen weiter, obwohl auch sie bei ihrem Einzug ins ehemalige Rathaus Wilmersdorf vor drei Monaten nicht mehr als »Hallo« sagen konnten. Heute sollen sie die Namen von Speisen und Gerichten lernen. Fahim, vielleicht sieben oder acht, trommelt auf den Tisch, wenn die anderen langsam die Wörter zusammenstückeln. Ihm dauert das zu lange. Er hat einen kleinen roten Gummiball mitgebracht und trägt eine lange Narbe im Gesicht. Sein Kumpel Ali, mit breiter Zahnlücke im Unterkiefer, jubelt, wenn er etwas »gut« oder »prima« gemacht hat. Und die Kinder machen in den Augen von Rita und Peter viel »prima« und »gut«.
Rita ist eigentlich Schauspielerin, Peter Journalist, aber hier und jetzt sind beide Lotsen durchs Buchstabenmeer, durch Wirrungen von Lauten, Silben, Wörtern. Sie sprechen die Sätze vor: »Ich esse ein Ei«, »Ich trinke Tee«, »Und jetzt du: Ich esse ein Ei«.
Ein illustriertes Alphabet hängt an der Wand, von A wie Affe bis Z wie Zebra. Das Lerntempo wird gedrosselt, damit alle alles mitbekommen, aber nicht so sehr, dass sich Fahim langweilt und die allgemeine Aufmerksamkeit nachlässt. Wobei an diesem Mittwoch eher Ersteres zu erleben ist.
Sich zu erkundigen »Was isst du gerne?« übersteigt das Niveau der Anfänger; zu sagen »ein Stück« vom Kuchen, erzeugt fragende Augen, zu fragen »Was trinkst du zum Kuchen?« nur noch schweigendes Unverständnis. Fahim fängt an, mit seinem Gummiball zu spielen. Dann fragt er, ob es schon Zeit für »Auf Wiedersehen« sei. Noch nicht, bescheidet ihm Rita, noch einmal muss er sich hinsetzen, er soll noch ein paar neue Wörter lernen, noch ein paar bereits gelernte wiederholen. Jeden Tag stellt sich hier die Frage: Wie viele neue Wörter verarbeitet ein Kind wie Ali pro Tag? Wie hält man Fahims Aufmerksamkeit, damit er seinen Gummiball für eine Weile vergisst? Und wie schafft man einen Augenblick der Ruhe, damit Maza zu hören ist? Dann, wenn sie bereit ist zu sprechen. [...]

mehr dazu in das Goethe. Kulturmagazin des Goethe-Instituts: 
https://www.goethe.de/resources/files/pdf79/das_goethe_Ausgabe1_Ansicht_0903161.pdf

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