Montag, 13. November 2023

Afrikanische Philosophie

 Aus einem Interview mit dem senegalesischen Philosophen Souleymane Bachir Diagne* über die Ideen des Ubuntu und anderes, ZEIT 9.11.23

Zunächst räumt Diagne mit zwei in Europa üblichen Missverständnissen auf. Zunächst der Gedanke, das eigentliche Afrika sei nur das südlich der Sahara, dabei gehört die arabische Kultur ganz wesentlich zu Afrika. Und sie hat zwischen der griechischen Philosophie der Antike und der europäischen Aufklärung der Moderne die Verbindung hergestellt, etwa, wenn man an Muslim Averroes denkt, der als umfassender Denker der arabischen Schriftkultur eine Voraussetzung der Renaissance am Beginn der Neuzeit geliefert hat.

Das andere Missverständnis ist, dass afrikanische Philosophie primär mündlich gewesen sei. Dabei sind in Timbuktu "Hundertausendevon Handschriften, die alle Wissenschaften umfassen und bis auf das 12. Jahrhundert zurückgehen."*

Dabei ist durchaus richtig, dass manches, was afrikanische Philosophie ausmacht, schon in einzelnen Wörtern der gesprochenen Sprache zu fassen ist:

"Nehmen Sie das Wort Ubuntu. Heute kennt man es in aller Welt, weil es in dem Südafrika von Nelson Mandela und Desmond Tutu so wichtig war. Die beiden fanden, dass die Weisheit dieses Worts, das aus den Bantusprachen der Zulu und Xhosa kommt, sich eigne, um den politischen Weg zu beschreiben, der aus der Apartheid führt. Denn Ubuntu bedeutet: gemeinsam zu Menschen werden, einander wechselseitig menschlich machen. Mandela und Tutu verwendeten deshalb das Wort Ubuntu im ersten Entwurf der südafrikanischen Verfassung, und im Zeichen dieses Begriffs hat die Wahrheits- und Versöhnungskommission dann gearbeitet."

Dazu passt eine Redensart in der afrikanischen Sprache Wolof:

"Der Mensch ist ein Heilmittel für den Menschen. Nit nitay garbam. Darin steckt das Wort nit, für den einzelnen Menschen, als Kraft. Als in Afrika debattiert wurde, ob die universellen Menschenrechte in afrikanischem Denken wurzeln oder nur eine westliche Erfindung sind, hat der Gedanke dieser Redensart eine zentrale Rolle gespielt. Für die afrikanische Charta der Menschenrechte ist grundlegend, dass das Individuum erst zur unverwechselbaren Person wird, indem die Gemeinschaft ihm Rechte zuschreibt. Aber vielleicht ist es beim Blick auf die gegenwärtige politische Welt vor allem wichtig, die Idee des Ubuntu zu universalisieren: damit wir aus den kriegerischen Stammesideologien herausfinden und gemeinsam zu Menschen werden, einander wechselseitig menschlich machen. Das ist es, was die afrikanische Philosophie der Welt heute zu sagen hat. " (Diagne)

* Diagne (engl. Wikipedia)

* Zur gegenwärtigen Situation: "Etwa 4.200 Exemplare der berühmten Timbuktu-Manuskripte sind von den Rebellen gestohlen oder zerstört worden, jedoch konnten über 300.000 Handschriften in die Hauptstadt Bamako gebracht werden und entgingen so der Vernichtung. Derzeit werden sie digitalisiert und konservatorischen Maßnahmen unterzogen." (Wikipedia)


Donnerstag, 2. November 2023

Verständigung über Kulturgrenzen hinweg: Weiße und Indigene - Gilgamesch und Enkidu

  Neue archäologische Methoden sind von einem indigenen Wissenschaftler eingeführt worden. Carlos Augustoda Silva.* "Der Archäologe unterrichtet seit Beginn des Jahrtausends an der Universität in der brasilianischen Regenwald-Metropole Manaus am Rio Negro.[...] 

"Wir kommen aus Denkschulen, in denen viel auf die Zusammenhänge zwischen allen Lebewesen geschaut wurde."

Er selbst hat sich zum Beispiel einen Namen dadurch gemacht, dass er bei seinen Ausgrabungen den Pfaden bestimmter Ameisenarten folgte, die ihn zu Hohlräumen unter dem Waldboden und damit zu einigen spektakulären Funden führte. Ein ausgegrabenes Tongefäß erzähle für ihn nicht einfach eine Geschichte über prähistorische Menschen, sagt er – sondern über das Leben aller Tiere, Pflanzen, des Bodens, sämtlicher Wesen an diesem Ort. "Sie können das natürlich eine Fundstätte nennen", sagt er. "Aber ich finde eine Gebärmutter vor. Einen Ort, aus dem einmal viel Leben hervorgegangen ist."
 Auf seinem Telefon hat da Silva ein paar Nummern von anderen Forschern mit indigenen Hintergrund gespeichert, die an Universitäten im großen Gebiet des Amazonaswalds arbeiten. Viele sind es nicht, er zählt die Namen an den Fingern seiner rechten Hand ab. "Wir haben noch immer ein Problem mit der akademischen Monokultur", sagt er mit einem Seitenhieb auf die Mehrheitskultur der Weißen, die seine amazonische Heimat mit Bulldozern platt walzen lässt, um Soja- und Maisplantagen daraus zu machen.
Die größte Vielfalt ist bisher in der anthropologischen Forschung entstanden. Auf dem Feld haben sich in Brasilien zuletzt Leute wie Joao Paulo Barreto  Gehör verschafft, ein Schamanensohn aus dem Volk der Tukano: Er regte 2013 einige Aufmerksamkeit mit einer Forschungsarbeit über ein Konzept seiner Heimatkultur, der Wai-Mahsa, Zwitterwesen aus Fisch und Mensch. Die Arbeiten westlicher Wissenschaftler zu dem Thema bezeichnete er als viel zu stark vereinfacht, die bisherige Forschung laufe sogar auf große Missverständnisse heraus.
Seit ein paar Jahren nun bemüht sich Barreto um ein besseres Verständnis zwischen westlichen und indigenen Heilpraktikern, er hat dafür ein Institut in der Anstalt Altstadt von Manaus eröffnet. "Ich glaube, dass ein solcher Dialog möglich ist, aber zuerst muss jede Seite verstehen, worauf das Wissensmodell des Gegenübers basiert", sagt er. Deshalb beteiligt er sich seit 2018 auch an der Herausgabe einer monumentalen Bücherreihe, in der indigene Denksysteme durch indigene Forscher und traditionelle Wissensbewahrer dargestellt werden – eine Volksgruppe nach der anderen." (Thomas Fischermann: Forscher, nicht Handlanger, ZEIT Nr 46, 2.11.2023)

Carlos Augusto da Silva [verkürzte Maschienübersetzung des portugiesischen Textes:] der den Weg der Ausgrabung von Artefakten und Stücken aus der Zeit vor Tausenden von Jahren verfolgte, hat jetzt einen Doktortitel in Archäologie von der Bundesuniversität von Amazonas (Ufam).
Carlos Augusto da Silva, 59, wurde als Sohn eines Fischers und Zimmermanns in der Gemeinde Manaquiri (60 km von Manaus entfernt) im Bundesstaat Amazonas geboren. Seine Großeltern waren indigener Herkunft und gehörten den Volksgruppen der Munduruku und Apurinã an. [...] Ende der 1960er Jahre hatte er als Zimmermannsgehilfe für seinen Vater Clóvis Inácio da Silva (verstorben) an der Erweiterung des Ufam-Campus gearbeitet. In den 1980er Jahren schloss er die Sekundarschule an einer öffentlichen Schule in Manaus ab. Im Jahr 1992 schrieb er sich für den Studiengang Sozialwissenschaften an der Ufam ein.

Nach Abschluss des Studiums der Sozialwissenschaften hätte er eine Karriere in einigen der Bereiche seines Studiums anstreben können, doch als er 1998 den Archäologen Eduardo Góes Neves kennenlernte, einen ordentlichen Professor für brasilianische Archäologie und Mitglied des Museums für Archäologie und Ethnologie an der Universität von São Paulo (USP), bewirkte die Freundschaft und Partnerschaft zwischen den beiden eine Wende in Silvas beruflichem und akademischem Leben. Er begann, den Weg der Archäologie einzuschlagen.
Carlos Augusto da Silva [...] machte 2010 seinen Master in Umweltwissenschaften mit Schwerpunkt Archäologie, ebenfalls an der Ufam. Im Jahr 2013 trat er der Brasilianischen Archäologischen Gesellschaft bei.
In der Amazonas-Archäologie ist Silva einer der Pioniere bei der Bergung alter Graburnen. Er hat bereits mehr als 70 Urnen aus Hinterhöfen, Straßen und öffentlichen Anlagen in Manaus und im Landesinneren von Amazonas geborgen, von denen viele durch den Einfluss der Zeit, des Menschen und die Missachtung des archäologischen Erbes der Stadt durch die Behörden stark beschädigt wurden. 


Schon das älteste Epos der Menschheit handelt von der Begegnung zweier extrem unterschiedlicher Kulturen, von dem sumerischen Herrscher Gilgamesch und dem "Wildmenschen" Enkidu, der mit den Löwen zieht und mit den Gazellen Gras frisst. 
Schamatu, die Dienerin der Göttin Ištar,  lehrt Enkidu die Sprache der Menschen, so dass Gilgamesch und Enkidu, die merken, dass ihnen ein gleich gewaltiger Held gegenüber steht, eine innige Liebesbeziehung entwickeln und es wagen, gemeinsam die größten Gefahren zu bestehen: Gemeinsam sind wir unschlagbar.