Donnerstag, 1. September 2011

Über Scham II

Milgram hat nicht nur ein Experiment über Autorität gemacht, sondern - unbeabsichtigt - auch eines über Scham.

Er schickte Studenten aus, sie sollten im Bus, wenn noch Plätze frei waren, Passagiere auffordern, bitte aufzustehen, sie wollten sich hinsetzen. Er wollte die Reaktion der Angesprochenen testen.
Dann wunderte er sich, weshalb recht viele Studenten von dem Projekt absprangen. Bis ein Student ihm erklärte, es sei gar nicht so leicht, bei dem Projekt mitzumachen.
Milgram probierte es selbst aus. Er ging in einen Bus und nahm sich vor jemanden anzusprechen und aufzufordern, aufzustehen. Es gelang ihm nicht. Schweiß brach ihm aus. Er wischte sich den Schweiß ab und merkte, dass seine Bewegungen fahrig wurden. Da stand eine junge Frau auf und sagte: "Wollen Sie sich nicht setzen?"

Offenbar schämt sich der Durchschnittsmensch mehr, als unverschämt zu gelten, als dass er sich schämt, Menschen zu misshandeln und zu töten, wenn eine Autorität es ihm befiehlt.

Inzwischen wird auf den verschiedensten Bereichen Scham abgebaut. "Das gehört sich nicht." bedeutet nicht mehr ein unbedingtes Tabu. Männer wagen es, sich originell zu kleiden. Frauen stellen immer offener ihren Körper zur Schau. Frauen bahnen offen Partnerbeziehungen an. Manche Männer reden - sogar mit Männern - über Gefühle.
(Freilich - so höre ich - in Beziehungen, wo die Partner schon viele Jahre unverheiratet zusammenleben, da darf sie nicht die Heirat vorschlagen. Gilt da "Das gehört sich nicht" oder ist es die Sorge, der Partner könnte die Bindungsverpflichtung so scheuen, dass er die Beziehung abbricht?)

Chodorkowski berichtet aus dem Gefängnis. Ein 23jähriger wegen Drogenbesitz Verhafteter soll "gestehen", einer Frau die Handtasche weggenommen zu haben. Er war dazu bereit, ...
"bis er die Beraubte sieht. Eine Rentnerin. Kolje sträubte sich. 'Ich habe Ältere nie angerührt, nur Gleichaltrige. Einer Alten das Letzte wegzunehmen - nein das unterschreibe ich nie. Da könnt ihr mich umbringen.'" (Frankfurter Rundschau vom 31.8.11)
Er wird verprügelt. In der Zelle begeht er Harakiri.

Wenn wir uns an die letzten Berichte von Übergriffen Jugendlicher auf Rentnerinnen und Rentner erinnern, so wissen wir, auch diese Schamgrenze wird längst überschritten.

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