Mittwoch, 29. April 2020

Achille Mbembe in der Diskussion

Auch in Deutschland wird gegenwärtig hauptsächlich über die Coronakrise  und die Kontaktbeschränkungen gesprochen. Doch ist auch ein Thema im Gespräch, das besonders Kamerun angeht, nämlich der Vorwurf an Achille Mbembe, er verharmlose den Holocaust und sei ein Antisemit, weil er den BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) unterstütze. 
Gegen beide Vorwürfe hat er sich in der deutschen Wochenzeitung DIE ZEIT am 23.4.2020 energisch verwahrt. Sein Thema sei nicht der Holocaust, sondern die Versklavung der "Neger" am Beginn des Frühkapitalismus. Dazu schreibt er unter anderem:
"Ich wollte vielmehr herausfinden, welche Rolle die Versklavung der "Neger", die am Ursprung des Frühkapitalismus steht, und die koloniale Eroberung bei der Schaffung der heutigen Welt gespielt haben und welcher philosophischen Kritik diese Ereignisse unterzogen werden sollten, wenn man meine Perspektive einnimmt, nämlich die einer universellen Versöhnung und eines "kollektiven Aufstiegs zum Menschsein". Das ist zum Beispiel der Ansatz, den ich in meinem Buch Kritik der schwarzen Vernunft entwickelt habe.
Diese Utopie einer Weltreparatur und der universellen Versöhnung sowie die sich daraus ergebende Idee des "Gemeinsamen" verdanken sich zu einem großen Teil bestimmten Traditionen des jüdischen Denkens. Vielen eiligen Lesern ist die Bedeutung gewisser Strömungen des jüdischen Denkens für meine Arbeit nicht bewusst. Sie sehen nicht, wie weitgehend Denkrichtungen, für die Autoren wie Hermann Cohen, Franz Rosenzweig, Ernst Bloch, Emmanuel Levinas und viele andere stehen, als Grundlage für meine Beziehung zum Holocaust im Besonderen und für meine Reflexion über die Irrwege des Menschen im Allgemeinen gedient haben."
Den vollständigen Artikel findet man hier:
 Achille Mbembe: Die Welt reparieren. Dies war immer mein Ziel. Eine Entgegnung an jene, die mir vorwerfen, den Holocaust zu verharmlosen. DIE ZEIT  23.4.2020

Zwei Aufsätze, in denen er kritisiert wird und in denen zu einer Diskussion aufgefordert wird, sind ebenfalls in DIE ZEIT veröffentlicht worden:

Eine echte Causa  von Martin Eimermacher  22.4.2020

"[...] In seinem Buch Politik der Feindschaft schreibt Mbembe außerdem: "Das Apartheidregime in Südafrika und – in einer ganz anderen Größenordnung und in einem anderen Kontext – die Vernichtung der europäischen Juden sind zwei emblematische Manifestationen dieses Trennungswahns." Israel habe ein System, "wo das Blut (das vergossene Blut) das Gesetz macht, in expliziter Anwendung des alten Diktums der Vergeltung, des Aug-um-Auge". In der Wissenschaft gilt eine solche Verquickung des Alten Testaments mit Israel als Merkmal der Judenfeindschaft.[...] "

Wie rassistisch ist der Westen? von Ijoma Mangold DIE ZEIT 29.4. 2020

"[...] Die Abolition-Bewegung, die seit dem 18. Jahrhundert, von England ausgehend, für die Abschaffung der Sklaverei kämpfte, findet in der Kritik der schwarzen Vernunft so gut wie keine Erwähnung, sie wäre für Mbembe auch schwer zu erklären, denn sie müsste ja Effekt eines Formtiefs des Kapitalismus gewesen sein – jedenfalls gewiss nicht Ergebnis eines moralischen Paradigmenwechsels, wie es der britisch-ghanaische Philosoph und Historiker Kwame Anthony Appiah beschrieben hat (zwei afropolitane Denker, wie sie im Übrigen unterschiedlicher kaum sein könnten).[...]"

Neu erschienen ist jetzt ein Aufsatz der Friedenspreisträgerin des deutschen Buchhandels Aleida Assmann:
Ein Klima des Verdachts, der Verunsicherung und Denunziation von Aleida Assmann, Frankfurter Rundschau 4.5.2020
[...] Ins Visier geraten ist die Intendantin der Ruhr-Triennale, Stephanie Carp, und der Philosoph Achille Mbembe, dessen Texte plötzlich im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen und viele Leser gefunden haben, die sie mit nur einem Interesse lesen: um in ihnen verdächtige Aussagen zu entdecken. Jürgen Kaube ist in der FAZ sofort fündig geworden und bestätigte aufgrund seiner Lesefrüchte prompt den Antisemitismusvorwurf. Die Folgen dieser Hermeneutik des Verdachts sind für Menschen in leitenden Stellungen happig, sie müssen mit Entlassung und bleibender Stigmatisierung rechnen, weil der kulturpolitische Sprecher der FDP, Lorenz Deutsch, der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein und der Zentralrat der Juden dies zu einem Fall gemacht haben.
Zur Skandalisierung des Falls haben vor allem drei Buchstaben beigetragen: „BDS“. Sie stehen für ein 2005 gegründetes Bündnis für Boykott, Investitionsentzug und Sanktionen. Dabei handelt es sich um eine Bewegung des gewaltlosen politischen Widerstandes gegen die fortschreitende Besetzung der palästinensischen Gebiete durch den israelischen Staat. Im Internet habe ich zwei Stellungnahmen von mir bekannten und sehr respektierten Wissenschaftlern zum BDS gefunden. Wolfgang Benz, ehemaliger Leiter des Zentrums für Antisemitismus-Forschung in Berlin, hält den BDS für „sehr unübersichtlich“ und nicht für antisemitisch, sondern für eine „politische, israelkritische Bewegung“, was „Antisemiten aber nicht an der Teilnahme hindere“. Wer BDS dagegen pauschal „als antisemitisch abstempelt“, habe „primär ein politisches Interesse – und kein Interesse an Aufklärung und Frieden.“ Mein anderer Gewährsmann ist Moshe Zimmermann, Historiker an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seiner Meinung nach ist nicht jeder BDS-Unterstützer automatisch Antisemit und nicht jeder Boykotteur ein BDS-Anhänger. Er sieht in diesen Zuordnungen eine „Technik des Mundtotmachens“ im Interesse der israelischen Regierung.
Warum ist diese Initiative plötzlich in die deutschen Schlagzeilen geraten? Um das zu verstehen, möchte ich den Horizont etwas erweitern und von den drei Buchstaben BDS zu den vier Buchstaben IHRA übergehen. Sie stehen für „International Holocaust Remembrance Alliance“, ein Bündnis von Staaten, das auf eine Initiative des schwedischen Präsidenten Göran Persson am 27. Januar 2000 in Stockholm zu einem Internationalen Forum zusammenkam. Die Gründungsurkunde dieses Bündnisses ist die „Stockholm Declaration“. Ihr Ziel war die Einführung des 27. Januar als verpflichtender Gedenktag und die Bekämpfung von Antisemitismus, um „die Saat einer besseren Zukunft in den Boden einer bitteren Vergangenheit (zu) streuen“. Seither treffen sich die Staaten der IHRA jährlich in einem der Mitgliedsstaaten und diskutieren die praktischen Fragen, die mit der Umsetzung der Holocaust-Erinnerungskultur in den unterschiedlichen politischen und kulturellen Milieus verbunden sind. Im Jahr 2016, unter dem Eindruck der wachsenden Aktualität einer neuen Antisemitismusgefahr, haben die Mitgliedstaaten der IHRA ihre Antisemitismus-Definition um den folgenden Passus zu erweitert: „Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“ 2017 wurde diese erweiterte Arbeitsdefinition von Antisemitismus von der Bundesregierung übernommen, 2019 folgte die Übernahme dieser Definition durch die Hochschulrektorenkonferenz.
Mit dieser Erweiterung der Antisemitismusdefinition ist das gegenwärtige Klima des Verdachts, der Verunsicherung und Denunziation entstanden. Denn inzwischen ist immer unklarer geworden, wer alles ins Fadenkreuz der Antisemitismusbekämpfung geraten kann. Nicht nur der BDS, sondern auch Philosophen wie Achille Mbembe. „Alles in einem Topf“ – diese Überschrift des Artikels von Jürgen Kaube, die dem Autor die Vermengung historischer Ereignisse wie Holocaust, Apartheit und Kolonialismus vorwarf, gilt auch für den Antisemitismusbegriff selbst. Ich schlage deshalb eine Unterscheidung von drei Antisemitismusbegriffen vor:


1. der alt-neue Antisemitismus als Hass und Gewalt gegen Juden, der eine 2500-jährige Geschichte hinter sich hat und dessen Bilder und
 2. der Antisemitismus als Kampf und Krieg gegen den Staat Israel er leugnet das Existenzrecht Israels und ist heute vor allem in islamischen Staaten verbreitet;
 3. der neue Antisemitismus als Kritik an bestimmten Aspekten der Politik des Staates Israel, der auf die erweiterte Definition der IHRA zurückgeht.
 Hier wird nicht unterschieden zwischen einer Leugnung des Existenzrechts des Staates (2) und einer Kritik an der Besetzungspolitik in diesem Staat. Diese Unklarheit ist dafür verantwortlich, dass die neue Antisemitismus-Definition (3) hierzulande explosive Reaktionen zeitigt und zu einem Klima der allgemeinen Verdächtigung geführt hat.

Im Artikel 3 der Stockholmer Erklärung von 2000 heißt es: „Da die Menschheit noch immer von Völkermord, ethnischer Säuberung, Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit gezeichnet ist, trägt die Völkergemeinschaft eine hehre Verantwortung für die Bekämpfung dieser Übel.“ Diese Aufgabe ist im Laufe der letzten 20 Jahre nicht leichter, sondern noch dringlicher geworden. Doch mit dem neuen Antisemitismusbegriff wird die globale Solidarität im Kampf gegen Judenhass nicht gestärkt, sondern behindert. Denn jetzt verläuft eine neue Trennungslinie zwischen denen, die bemüht sind, den Staat Israel mit ihrer Kritik zu unterstützen und zu verbessern, und denen, die entschlossen sind, ihn gegen jegliche Kritik zu immunisieren."

dazu sieh auch:
Eva Illouz: "Die Doppelmoral macht mir Sorgen" DIE ZEIT 7.5.20 - Illouz argumentiert ähnlich wie Assmann, bringt aber bemerkenswerte weitere Beispiele ein.

Nun schreibt Jürgen Kaube in der FAZ: Wer hat Achille Mbembe gelyncht? 10.5.20
"[...] Assmann suggeriert, es handele sich bei den Kritikern Mbembes um Diskurspolizisten, die eine Wohnung auf den bloß gerüchteweisen Verdacht hin durchsucht hätten, dort Beweismaterial gegen den Bewohner zu finden, also unrechtmäßig. Aber Texte sind keine Wohnungen, sie sind öffentlich. Und die Vermutungen kamen nicht irgendwie auf, sondern aus den Texten. Das muss nicht bedeuten, dass sie zutreffen, aber ob sie zutreffen, lässt sich nicht ohne Diskussion entscheiden.
Wie kommt es umgekehrt, dass gerade den Kennern Mbembes jene Passagen nicht aufgefallen sind? Weil sie unauffällig wären, harmlos? Es kam sogar die fabelhafte Behauptung auf, sie könnten gar nicht problematisch sein, sonst wäre das ja schon beim Erscheinen der Bücher aufgefallen. Ijoma Mangold hat in einer ebenso glänzenden wie fairen Analyse in der „Zeit“ notiert, Mbembes Rhetorik kenne nur Superlative. Bei jeder moralisierbaren Tatsache steigert er sich in maximal düstere Beschreibungen wie Anklagen hinein.
Das zieht nicht nur bestimmte Mentalitäten an, es suggeriert auch die Teilhabe an einem universellen Kampf – durch Lektüre und Vorträgehalten. Das entsprechende Herzpochen übertönt die Irrtümer. Nichts gegen das Unterschreiben von Aufrufen, Petitionen, offene Briefen. Aber die Welt „zu reparieren“, wie es Mbembe als seine Absicht bekundet hat, die ganze Welt in ihrer Verfinsterung mittels Büchern und Vorträgen und Protestnoten, läuft ein Vorhaben hinaus, das nicht einmal religiös zu nennen wäre. Sondern nur angeberisch und selbstgerecht. Die Aufgabe von Theoretikern ist es, ihre Theorien zu reparieren. Wenn man sie so anschaut, wären sie damit gut beschäftigt."
Claus Leggewie: Streit über Achille Mbembe: Bitte um Moderation FR 14.5.2020 
"[...] Es wäre gut, wenn vor dem Hintergrund dieser Dauerpolitisierung der Kern der Debatte sichtbar würde – die Frage nach dem Stellenwert der Shoah in einer langen Geschichte von Verfolgungen und Staatsverbrechen, die vorher begann und damit nicht endete. Es geht um den bereits zu Beginn der 1950er Jahre von Hannah Arendt in ihrem Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ thematisierten Zusammenhang von Kolonialismus und dem Mord an den europäischen Juden – und mögliche Kontinuitäten im heutigen Antisemitismus und Rassismus. Die einen beharren auf der Einzigartigkeit der jüdischen Verfolgung, also der völligen Inkommensurabilität des Holocaust, was unter Historikern und Komparatisten ausgeschlossen ist, da sich Singularität überhaupt erst im Vergleich erweisen könnte. Vergleichen heißt nicht gleichsetzen, das gilt auch für den natürlich ebenfalls zulässigen, aber lange aus politischen Gründen vermiedenen Vergleich von Hitler- und Stalin-Diktatur, zwischen Genoziden aus Rassen- und Klassengründen.

Auf der anderen Seite findet statt der Singularisierung eine Subsumtion statt, bei der die Shoah (nur) ein rassistisches Verbrechen unter anderen war und die Überlebenden der Shoah in Israel den Palästinensern ein ebensolches Unrecht antun. Derartige Reduktionen lösen sich bei genauem Hinschauen blitzschnell im Säurebad eines methodisch sauberen Vergleichs auf, den dann auch Intellektuelle wie Mbembe oder Judith Butler anerkennen sollten. Das schon aus Respekt vor den Leidtragenden. In der „Genau wie …“-Gleichsetzung oder „Schlimmer noch als …“-Hierarchie steckt eine die Opfer missachtende Konkurrenz, die vor allem den unbeteiligten Nachlebenden zu oft banalen tagespolitischen Zwecken dient. Und die dabei die tatsächlichen Gemeinsamkeiten verkennt, um deren Identifizierung und Bekämpfung es heute doch wohl geht. [...]"

Felix Klein: "Für eine Entschuldigung sehe ich keinen Anlass" Die ZEIT 19.5.20 (22/2020) Interview von 
"Ich erlebe es oft, dass der Antisemitismus jeweils woanders gesucht wird, je nachdem, welches Interesse verfolgt wird."

Welches Interesse er damit verfolgt, gerade Achille Mbembe zu beschuldigen, wird nicht recht deutlich. 

Eine recht vollständige Darstellung zur auf Mbembe bezogenen Antisemitismusdebatte in Deutschland bietet inzwischen die Wikipedia. Es ist damit zu rechnen, dass sie weiter aktualisiert wird. International scheint die Debatte freilich nach Ausweis der Wikipediaartikel in anderen Sprachsektionen wenig Interesse zu finden.

 Unser Blog "Nachbarschaft" hat bereits über zwei wichtige philosophische Ansätze Achille Mbembes berichtet: Die "Ethik des Passanten" (2018) und seine "Kritik der schwarzen Vernunft" (2015).

Zu dem sehr komplexen Thema Antisemitismus gibt es - ohne Bezug auf Mbembe! - drei neuere Publikationen, die am 16.5. in der Frankfurter Rundschau besprochen wurden. 
Christian Thomas: ANTISEMITISMUS. Jude in Deutschland 16.5.20 FR
Es wird deutlich, dass das Thema Antisemitismus sehr komplex ist und dass es äußerst schwierig ist, ihn zu bekämpfen, ohne das Missfallen derer zu erregen, die eine andere Art der Bekämpfung für sinnvoller halten.
Daniel Barenboim hat mit dem West-Eastern-Divan-Orchestra viel dazu beigetragen, dass Juden und Araber, Israelis und Palästinenser bei der gemeinsamen Arbeit an Musik, die ihnen gefällt, zueinander finden und  sich besser verstehen.
Dennoch sieht er besonders genau, weshalb das so schwer ist: Unter Arabern ist Antisemitismus und ein Hass auf Israelis sehr stark verbreitet und Israelis können das verständlicherweise nicht akzeptieren. Das liegt an schwerwiegenden Gründen. Barenboim hat das Problem so beschrieben:
"Wenn es wahr ist, dass die Palästinenser nicht in der Lage sein werden, die Israel zu akzeptieren, ohne auch seine Geschichte einschließlich des Holocaust zu akzeptieren, dann ist ebenso wahr, dass Israel nicht in der Lage sein wird, die Palästinenser zu akzeptieren, solange der Holocaust sein einziges moralisches Kriterium für seine Existenz ist."
So werden vermutlich die Bewohner ehemaliger Kolonien nicht akzeptieren, wenn ihnen gesagt wird, das damalige Unrecht sei nicht so schlimm wie der Holocaust. Ein Völkermord wird nicht dadurch "nicht so schlimm", wenn ein sehr viel schlimmerer stattgefunden hat. Gerade Deutsche sollten sich hüten, so zu argumentieren, weil Deutsche sowohl den Völkermord an den Herero und Nama als auch den Holocaust verursacht haben. 
Eine gute Unterscheidung zwischen legitimer Kritik an der Politik des Staates Israel und Antisemitismus hat inzwischen Stephan Hebel vorgelegt.
Nicht auf Mbembe bezogen, aber wichtig für den Zusammenhang der gegenwärtigen Diskussion in den USA schreibt Saul FriedländerEin fundamentales Verbrechen Die ZEIT 7.7.21:
[...] Nicht alle, die sich unter dem Banner der postkolonialen Kritik versammeln, sind Feinde Israels, und diejenigen, die sich offen antisemitisch äußern, mögen nur eine Minderheit sein. Der Antisemitismus in den USA aber hat im Zuge der jüngsten Proteste beunruhigende Ausmaße angenommen – so auch in Los Angeles, wo ich lebe: Bei den Black-Lives-Matter-Demonstrationen gegen Polizeigewalt nach der Ermordung von George Floyd im vergangenen Mai waren hier jüdische Viertel die Hauptziele. In Fairfax, einer der ältesten jüdischen Gemeinden in L.A., wurde der Demonstrationszug von der Professorin Melina Abdullah angeführt, einer der leitenden Organisatorinnen von Black Lives Matter; auf dem Protestmarsch haben Randalierer auch Synagogen und jüdische Geschäfte verwüstet. "Es ist kein Zufall", schrieb ein örtlicher Rabbiner, "dass die Ausschreitungen hier in Fairfax eskaliert sind, dem Symbol der jüdischen Gemeinschaft. Ich habe die Watts- und die Rodney-King-Ausschreitungen miterlebt, bei denen nie eine Synagoge oder ein Gebetshaus angerührt wurde. Die Graffiti kündeten von unverhohlenem Antisemitismus."
 Diese gewaltsamen Massenausbrüche von Judenhass sind in den Vereinigten Staaten relativ neu. Leider scheinen sie inzwischen eine recht häufige Begleiterscheinung von Black-Lives-Matter-Demonstrationen zu sein. Dies sollte zur Kenntnis nehmen, wer das Holocaust-Gedenken aus postkolonialer Perspektive kritisiert und raunend von "amerikanischen und israelischen Eliten" spricht. Der Antisemitismus war damals eine zerstörerische Kraft, und er ist es heute, ganz gleich, aus welcher Richtung er kommt. [...]"

Dienstag, 21. April 2020

Afrikas Überflieger

"[...] Gerade erst im Januar hat Unicef, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, gemeinsam mit der Virginia Polytechnic Institute and State University (Virginia Tech) die „African Drone and Data Academy“ (ADDA) an den Start gebracht. Hafsatu, Theordore, Cynthia und ihre Mitstudierenden sind die ersten Absolventinnen und Absolventen, die an diesem Exzellenzzentrum ausgebildet wurden, um einmal den Luftraum in ihren Heimatländern zu erobern. „Für humanitäre und entwicklungspolitische Zwecke“, betont Rudolf Schwenk, Unicef-Landesdirektor in Malawi. Das 21. Jahrhundert werde schließlich von der Digitalisierung bestimmt. „Und wir machen sie fit dafür. Mit den erlernten Fähigkeiten werden die jungen Leute ihre Länder einen großen Schritt voranbringen.“ [...]

Drohnen könnten beispielsweise Impfstoffe und Malariamedikamente schnell in schwer erreichbare Regionen transportieren oder Bluttests und Laborproben schnell von dort in Kliniken fliegen, erläutert ADDA-Chef Michael Scheibenreif. Denkbar sei auch ein Einsatz, um mit hochauflösenden Darstellungen – viel präziser als Google Maps das schafft – auf dem Land frühzeitig mögliche Kontaminationsquellen zu identifizieren und damit Choleraausbrüche wie zuletzt 2018 in Malawi zu verhindern. Drohen Überschwemmungen, könnten fliegende Kameras potenziell gefährdete Gebiete ausmachen. „Selbst Schäden an Pflanzen erkennen Drohnen und geben damit frühzeitig Hinweise auf mögliche Ernährungskrisen“, erklärt Scheibenreif. [...]
Theodore Kamunga zieht jetzt mit Partnern die Firma Nyasa Aerial Data Solutions auf und will um Kundinnen und Kunden werben, die luftbildgestützte Raum- und Infrastruktur-Analysen suchen, bevor sie in eine Geschäftsidee investieren. Eine Art Gesellenstück lieferte der 29-Jährige mit seinem Praxis-Projekt während der ADDA-Ausbildung, das er wie alle anderen Akademie-Absolventinnen und -Absolventen zum Abschluss in Lilongwes Kongresszentrum präsentiert. Kamunga kartografierte mittels Drohnenaufnahmen das 40.000 Menschen zählende Flüchtlingscamp Dzaleka, in dem er noch immer lebt, und lieferte eine Bestandsaufnahme der Wassereinzugsgebiete des Lagers. „Damit können wir die Wahrscheinlichkeit von Überschwemmungen berechnen und gleichzeitig zeigen, wo der Bau von Drainagen besonders dringlich ist.“ [...]"
(Afrikas Überflieger FR 21.4.2020)

Darmstädter Start-Up: Lieferung von Antibiotika per Drohne FR 21.4.2020

Donnerstag, 16. April 2020

Coronakrise in Afrika

Afrika ist differenziert zu betrachten, die Situation in den einzelnen Staaten unterscheidet sich stark.
Dennoch fällt auf: Die Ebola-Epidemie hat Afrikas Staaten vorgewarnt. Sie gehen die Krise energischer an als Europa und die USA. 
Doch ohne soziale Unterstützungsmaßnahmen für die Armen könnte der Kampf gegen die Epidemie mehr Opfer kosten als die Epidemie.
Da das Geld fehlt, ist die Solidarität aus allen anderen Erdteilen gefragt.
"[...] Die Pandemie wird den globalen Süden und damit auch Afrika ohne Zweifel ungleich härter treffen als China, Europa oder die Vereinigten Staaten. Womöglich weniger durch das Virus selbst als durch seine Bekämpfung: Die Folgen der weltweiten Schockstarre bedrohen die Ärmsten mehr als alle anderen – ihr Einkommen ist plötzlich weg, Impfkampagnen werden angehalten, Hilfsflüge eingestellt.
 Doch bevor man die 54 Staaten des Nachbarkontinents wieder einmal zu einer apokalyptischen Suppe verrührt, die der Westen dann noch mit auslöffeln muss, sollte man den Blick schärfen: Das Klischee vom ewig hilflosen Süden war immer schon ein Trugbild. Erst recht ist das so in der Corona-Krise, in der sich Afrika und Europa nicht fremder, sondern ähnlicher werden. [...]
Aber gerade weil Afrikas politische Eliten relativ früh drastische Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus verhängt und damit den täglichen Überlebenskampf der Ärmeren unterbunden haben, stehen sie jetzt vor einem ebenso drastischen Legitimationsproblem: Ihre junge Bevölkerung rebelliert vielerorts ohnehin schon gegen Misswirtschaft und Ungleichheit. Jetzt müssen die Herrschenden die enormen sozialen und ökonomischen Folgen der Corona-Maßnahmen wenigstens ansatzweise mildern. Mit Tränengas und Schlagstöcken, die in Nairobi und in anderen afrikanischen Städten schon exzessiv eingesetzt worden sind, lassen sich Lockdowns auf Dauer nicht durchsetzen. Und Regierungsmacht bewahren kann man so am Ende auch nicht.
Forderungen wie die von Otieno nach einer allgemeinen, kostenlosen Krankenversicherung klingen dabei gar nicht mehr so utopisch wie noch vor einigen Jahren. Afrikas Gesundheitssysteme sind unter den Spardiktaten des Internationalen Währungsfonds (IWF) zusammengestrichen und privatisiert worden. Dass nun westliche Staats- und Regierungschefs wie Emmanuel Macron oder Pedro Sánchez von kostenloser Gesundheitsversorgung für alle und Verstaatlichung privater Krankenhäuser reden, ist eine Zeitenwende, die man auch in Afrika mitbekommen hat.
Nur geht das dort eben nicht ohne internationale Hilfe. Die ärmeren Länder des Kontinents stehen vor gewaltigen Schuldenbergen, auch die wohlhabenderen können aus eigener Kraft keine großen medizinischen oder sozialen Schutzschirme aufspannen. [...]"
(Andrea Böhm: Corona in Afrika: Das Ebola der Reichen Die ZEIT 15.4.20)

Montag, 6. April 2020

Die Vorzüge der Normalität

In Deutschland spricht man von der schlimmsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, seit dort am 22. März 2020 eine umfassende Kontakteinschränkung beschlossen wurde, wonach der Aufenthalt im öffentlichen Raum „nur alleine oder mit einer weiteren Person oder im Kreis der Angehörigen des eigenen Hausstands gestattet“ ist. (Tagesschau.de)
Immer stärker wird der Wunsch, endlich zur "Normalität" zurückzukehren.
In dieser Situation erinnert die Frankfurter Rundschau daran, dass morgen vor 26 Jahren (am 7.4.1994) mit dem Völkermord in Ruanda dort die Normalität grausam beendet wurde. Inzwischen ist nach jahrzehntelangen Bemühungen weitgehend wieder Normalität eingekehrt und der Fußball spielte dabei eine wichtige Rolle:
"Ein wichtiger Ort für Vergangenheit und Zukunft des ruandischen Fußballs ist das Stadion Nyamirambo in der Hauptstadt Kigali, umgeben von einer belebten Straße mit Friseursalons und Getränkeshops. 1998 wurden im Nyamirambo Verantwortliche des Völkermordes öffentlich hingerichtet. 2007 wurde die Todesstrafe abgeschafft, seitdem gilt das Stadion als Ort des Vergnügens, zum Beispiel als Heimstätte des APR FC, des landesweit erfolgreichsten Vereins. Rund 2000 Zuschauerinnen und Zuschaue verteilen sich bei einem Heimspiel auf den blauen, gelben und grünen Sitzen.
Trommler und Trompeter haben ihre Gesichter in den Vereinsfarben schwarz und weiß geschminkt. Der Klubname APR steht für Armée Patriotique Rwandaise. „Unser Verein ist eng mit dem Freiheitskampf verbunden“, sagt der General Mubaraka Muganga, einer der Vizepräsidenten des APR FC. Während des Bürgerkrieges Anfang der Neunziger Jahre, der in den Genozid mündete, spielten Kämpfer der Tutsi-Rebellenarmee auch Fußball, daraus erwuchs der APR FC. „So kamen wir auf andere Gedanken und schöpften Mut“, sagt Mubaraka Muganga. „Manchmal gelang es uns, durch Fußball neue Kräfte zu rekrutieren.“ Bis heute hat APR 17 Mal die Meisterschaft gewonnen." (Frankfurter Rundschau 6.4.2020)
Es ist Afrika zu wünschen, dass es dort wegen der Vorwarnung durch die chinesischen, europäischen und amerikanischen Erfahrungen gelingt, die Ausbreitung der Epidemie rechtzeitig zu verhindern.
Eine Zeit lang wird man dabei auf Normalität verzichten müssen, um eine afrikaweite Epidemie zu verhindern.

mehr zur COVID-19-Pandemie:
COVID-19-Pandemie (Wikipedia)