Die Wochenzeitung Die ZEIT hat in der Aktion "The World Talks" Tausende Menschen, die einander völlig fremd sind, dazu gebracht, ausführlicher miteinander zu sprechen.
https://www.zeit.de/2023/27/the-world-talks-frauen-tansania-norwegen
Es geht dabei darum, dass Menschen in völlig unterschiedlichen Lebenssituationen sich bereit erklären, miteinander zu sprechen, um die andere Person besser zu verstehen. Das soll dazu helfen, dass sie nicht nur eine andere Kultur besser verstehen, sondern darüber auch ganz allgemein lernen, wie man sich über Kulturgrenzen hinweg verstehen kann.
Das ist in großem Maßstab das, was sich in kleinerem Maßstab im Juli 2008 Evariste Fosong in Gabun und Franziska Götz in Deutschland mit dem "Magazin für internationalen Kulturaustausch Nachbarschaft" vorgenommen haben. Es begann mit hektographierten Blättern und wurde ab September 2009 auch ins Internet übertragen.
Weil wir die gleiche Zielsetzung verfolgen wie das Projekt der ZEIT, wollen wir den Bericht über das erste solche Gespräch (sieh ZEIT vom 22.6.23) hier vorstellen:
Der ZEIT-Artikel berichtet vom Gespräch einer 30-jährigen Frau aus Tansania mit einer 67-jährigen Frau aus Nordnorwegen, wo gegenwärtig die Mitternachtssonne scheint.
Junaice Mollel aus Tansania ist am 11.5.1993 am Stadtrand von Arusha in einem Stall geboren und über ein Ausbildungsprogramm für Teenager aus mittellosen Familien, in der Fachrichtung Tourismus zur Hotelmanagerin in Arusha aufgestiegen.
Janicke Kernland, * 27. Juni 1966 in Park Ridge, Illinois, USA ist das Kind norwegischer Auswanderer, der Vater Berater für ein amerikanisches Metallunternehmen, die Mutter Journalistin. Janicke lebt jetzt in der Kleinstadt Mosjøen und ist Direktorin der dortigen Heimatmuseen.
Junaice hat ihren Geschwistern die Ausbildung finanziert, der Bruder wurde Polizist, die Schwester Lehrerin. Das hat sie durchgehalten, auch als sie während der Corona Zeit deutlich weniger verdiente, weil der Tourismus damals zusammen brach.
Möglich wurde das nur, weil sie ständig mehr als andere gearbeitet hat, um ihrer Familie zu helfen. Ihre Schulausbildung konnte dazu nur wenig beitragen. Ihre Klasse hatte 100 Schüler, der Schulweg dauerte eine Stunde hin und eine zurück. Hausaufgaben gab es keine, individuelle Förderung gar nicht. Als Leistungsantrieb hatte ihr Vater für sie Folgendes vorgesehen: Wenn sie am Ende des Halbjahres zu den zehn besten gehörte, bekam sie eine Cola und ein Stück Kuchen. Wenn sie schlechter war, gab es so viele Schläge, wie es dem Platz entsprach: 12 beim12. Platz, 13 beim 13. Als sie mit elf Jahren auf den 40. Platz kam, also 40 Schläge. Die wurden, weil sie noch jung war, auf vier Tage verteilt.
"Böse sei sie ihrem Vater deswegen nicht. Seine Kinder zu schlagen, sagt Junaice Mollel, sei in Tansania noch immer normal. 'Er hat einen Stock genommen, der nicht so wehtat.' Andere Dinge, die er tat, wiegen schwerer. Dass er manchmal mit härteren Gegenständen zuschlug, so fest, dass die Haut aufplatzte und Narben blieben. Dass er, nachdem er den kleinen Laden verkauft hatte, nicht mehr arbeiten wollte und Junaice und ihre Geschwister von der Hilfsorganisation World Vision ernährt werden mussten. [...] Und trotzdem, das sei ihr wichtig zu betonen, liebe sie ihren Vater, er sei ihr bester Freund und wichtigster Ansprechpartner. Fragt man Junaice Mollel, ob sie nie daran gedacht habe, mit ihm zu brechen, schaut sie einen verständnislos an. " (ZEIT 22.6.)
Janicke kannte in ihrem Leben keinen wirklichen Hunger.
"Als sie aufwuchs, bedeutete Familie für sie nie etwas anderes als Geborgenheit und Freiheit. 'Mein Vater hat immer gesagt: Wenn dir etwas Spaß macht, dann bist du gut darin, und wenn du gut in etwas bist, dann wirst du immer Arbeit haben.' Ihre Eltern hätten ihr viel gegeben, sagt sie, aber auch viel gefordert. Was genau – schwer zu sagen. Vielleicht waren es die stillen Erwartungen, die eine Kindheit voller Chancen weckt: gute Noten schreiben, einen guten Job finden, glücklich werden.
Als sie 14 war, trennten sich die Eltern. Der Vater lernte eine Frau aus Hongkong kennen, die Mutter einen schwedischen Piloten. Patchworkfamilie, Stiefeltern, noch mehr Reisen: Abu Dhabi, Florida, die Bahamas, die Cayman Islands, das Great Barrier Reef. Alles, noch bevor Janicke Kernland 18 wurde. In New York heiratete sie ihren Jugendfreund. Danach wechselten sie mehrmals das Land, in dem sie arbeiteten. Mal im Interesse des Mannes, mal im Interesse der Frau. In Nordnorwegen in einem kleinen Ort Heimatmuseen zu betreuen, entspricht ganz ihrem Interesse.
Und in ihrer Freizeit fahren sie und ihr Mann am liebsten auf eine Insel: nur 10 Häuser, keine Straßen, kein fließend Wasser. Fast nur Birken, Felsen und ringsum Wasser. Möglichst viel Natur, möglichst wenig Zivilisation.
Auf die Frage: Was macht Sie glücklich? antwortet Juanice: Meine Familie.
Janicke antwortet: Zeit mit meiner Familie und meinen Freunden zu verbringen. Dass es meinen Kindern gut geht. Ich liebe die Jahreszeiten. ...
Auf die Frage: Was macht sie unglücklich? sagt Junaice: Meine Familie zu verlieren
Janicke: Globale Instabilität. Klimawandel. Umweltverschmutzung. Der Platz, den wir Menschen einnehmen. Der Anstieg der Energiekosten und die Gehälter im Museum. ...
Zeit für eine kurze Reflexion: Junaice hat es in ihrem Leben viel schwerer gehabt als Janicke. Aber auf die Frage, was sie unglücklich macht, hat Janicke viel mehr zu sagen. Freilich auch auf die Frage, was sie glücklich macht. (Ihre beiden Antworten sind, um die Leser nicht zu langweilen, stark gekürzt.) Janickes Familie ist, schon als sie 14 war, zerbrochen. Weshalb erwähnt sie das nicht in ihrer langen Liste und schreibt erst erst nach vielem anderen: "Ich habe Angst, dass ich nicht genug für meine alternden Eltern tue." Warum?
"Das Leben in Norwegen war Anfang der Siebzigerjahre für viele Menschen noch schlicht und hart. Doch das sollte sich bald ändern. Denn man begann, in der Nordsee Öl und Gas zu fördern.
Rein materiell betrachtet ist zumindest Norwegen heute ein sehr viel besserer Ort als in der Vergangenheit. Sich selbst versorgt das Land fast ausschließlich mit nachhaltiger Energie aus Wind- und Wasserkraft. Das Öl und das Gas verkauft es ins Ausland, dort werden sie verbrannt, wodurch CO₂ in die Atmosphäre gelangt. Das ist schlecht fürs Klima, aber gut für die norwegische Wirtschaft. Die fossilen Energiequellen pumpen so viel Geld in den Staatshaushalt, dass sie den meisten Einwohnern ein gutes Leben ermöglichen. Die Schulen sind umsonst, die Universitäten und Büchereien. In einer durchschnittlichen norwegischen Grundschule kommen auf einen Lehrer 13 Kinder. Der Staat verwaltet für seine Bürger einen Pensionsfonds, über eine Billion Euro schwer, jeder Norweger und jede Norwegerin besitzt allein dadurch mehr als eine Viertelmillion Euro in Aktien und Anleihen.
Junaice Mollel in Tansania sieht von dem Geld natürlich nichts, sie ist schließlich keine Bürgerin Norwegens. Sie sieht etwas anderes: was das CO₂ mit ihrer Heimat macht. Sie sieht, wie der Schnee auf dem Kilimandscharo von Jahr zu Jahr weiter schmilzt. Wie der Victoriasee, Afrikas größter See überhaupt, austrocknet. Wie sich die Serengeti aufheizt, wie Ernten ausfallen und Starkregenfälle zunehmen und Malariamücken sich vermehren. Obwohl die Tansanier pro Kopf und Jahr nur 0,21 Tonnen CO₂ ausstoßen, spüren sie die Folgen des Klimawandels deutlich mehr als Janicke Kernland in Norwegen. Dort emittieren die Menschen trotz all der nachhaltigen Energie im Durchschnitt 7,57 Tonnen CO₂.
Junaice Mollel weiß nichts vom Reichtum Norwegens, von dessen Schatz aus Öl und Gas. Mit Klimapolitik, sagt sie, kenne sie sich nicht aus. Sie findet nur, dass die reichen Länder, die die Erde so verschmutzen, Ländern wie Tansania, die darunter leiden, helfen sollten. Darin ist sie sich mit Janicke Kernland einig, die sogar noch einen Schritt weiter geht. Ihrem Land gehe es gut genug, sagt sie, dem Klima ganz und gar nicht. Janicke Kernlands Forderung: Norwegen solle zwar nicht sofort die gesamte Ölförderung stoppen, aber keine neuen Felder mehr erschließen." (ZEIT vom 22.6.23)
Der Bericht wird in einem Folgebeitrag fortgesetzt.
Zur Rolle der Frau in Afrika vgl. auch den Blogartikel: Schwarz und Frau
Zu der Forderung, die reichen Länder sollten mehr für die Länder tun, die unter dem Klimawandel leiden, sieh in unserem Blog: Klimareparationen und in Greta Thunberg: "Das Klima-Buch".
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